Felix Austria
Dekonstruktion eines Mythos? Das österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts

Was kann Theater? Kann es einen Mythos dekonstruieren, der für eine Nation einen wichtigen Baustein der Identitätsstiftung konstituiert? Selbst wenn ' wie im Fall Österreichs ' das Theater sich in den letzten 20 Jahren forciert in der Dekuvrierung der Schattenseiten des immerwährenden Glücksszenarios des Landes übte, erscheint die Frage, die im Titel des Sammelbandes steht, als kalkulierte Provokation. Sehr österreichisch, möchte man kommentieren, weil zynisch-provokativ und zugleich augenzwinkernd, liest sich der programmatische Titel: 'Felix Austria. Dekonstruktion eines Mythos?'
Die dem vorliegenden Band vorangestellte Frage intendiert die theatralische Mythenzersetzung als ein Charakteristikum der österreichischen Dramatik seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine solche Fragestellung ist kein Novum in dieser Sparte der Literaturwissenschaft, welche sich mit dem österreichischen Theater auseinandersetzt. Ein Novum wäre allemal in der großen Spannbreite der dargestellten dekonstruierten 'Mythen' zu erkennen.

Opfer-Mythos
Die Fokussierung auf das 20. Jahrhundert legt nahe, dass es sich vorwiegend um den im Erinnerungsdiskurs wohl bekannten Opfer-Mythos handeln wird. Dass solche prominenten 'Nestbeschmutzer' wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek die Wunschvorstellung von der 'alpensauberen' Vergangenheit des Landes während des zweiten Weltkriegs oft und gern hinterfragt haben, ist wohl bekannt. Insofern kann 'Felix Austria' überraschen, denn ausgerechnet dieser Mythos wird hier explizit nur in drei Texten hervorgehoben, dabei handelt einer von Theaterstücken Heinz R. Ungers, der nicht zum Aushängeschild der österreichischen Dramatik gehört.

Tu felix Austria nube
Der im Titel des Bandes evozierte Mythos von einem Österreich das durch geschickte Heiratspolitik selig geworden ist, kommt im konzise ausgearbeiteten Text über ein Stück von Herzmanowsky-Orlando zu Wort. Hier wird ein Distinktionsmerkmal der österreichischen Literatur angesprochen, das sich durch viele hier dargestellte Analysen hindurchzieht, nämlich die Sensibilität für die Nuancen der sprachlichen Vermittlung. Kraussche Attacken auf die 'Phrase', die, bar jeder moralischen Essenz, das Sprechen und Denken unterhöhlt, Kraus' Mission einer in ethischen Duktus formulierten Verantwortung für den Zustand der Sprache markieren in der Entwicklung der österreichischen Literatur einen Punkt, von dem aus es kein Zurück in eine 'naive' Haltung gegenüber der Sprache gibt. (Ironischerweise wurde dieser wichtige Moment literarisch ausgerechnet in einem  wegen seines Volumens 'theateruntauglichen' Drama ausgetragen).

Der habsburgische Mythos
Claudio Magris hat dem 'Mythos Kakanien' als dem Leitmotiv mehrerer Werke österreichischer Autoren zweifelsohne zum Durchbruch verholfen, die Konjunktur des Themas lässt seit der Erscheinung seiner Studie nicht nach. Auch in 'Felix Austria' findet man eine (dramatische) Variante des Abschieds vom Mythos 'Kakanien' im Stück '3. November 1918' von Franz Theodor Csokor. Der Autor bietet eine ausführliche historische Analyse der Zeitspanne kurz nach dem Zerfall des Habsburgischen Kaiserreiches und leistet damit einen Beitrag zur Beleuchtung eines schwierigen Kapitels der österreichischen Vergangenheit, und damit zur Desillusionierung mit Blick auf die letzten Tage Kakaniens.

Burgtheater-Mythos
Selbst das Theater in der Burg, als die Vorzeigekulturstätte der Zweiten Republik ebenfalls zum Mythos avanciert, entkommt nicht der im Titel avisierten 'Dekonstruktion'. Am Beispiel eines Zyklus von Dramoletten wird das Haus am Ring 'mit den besten Schauspielern der Welt, mit den besten Bühnenbildnern der Welt, mit dem besten Publikum der Welt', wie es in ironisch-manischer Manier bei Bernhard heißt, buchstäblich demoliert. Die Analyse der Dramolette macht zum einen auf die für Bernhard programmatische 'Traktierung' seiner Heimat als theatrum mundi, einer 'Volkskomödie Österreich' aufmerksam und zum anderen auf die Entblößung der Schwächen des legendären Burgtheaters, dessen Rückständigkeit, Konservatismus und Selbstgefälligkeit schonungslos angeprangert werden.

Mythos von der österreichischen 'Avantgardelosigkeit'
Futurismus, Dadaismus, Surrealismus ' keine von den drei historischen Avantgarden hat es in Österreich auf eine lokale Variante gebracht. Daher der Nachholbedarf in den 50er und 60er Jahren mit solch radikalen Gruppierungen wie Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus ' soweit die gängige Meinung. Diese lässt sich nur dann verteidigen wenn man an dem von Peter Bürger etablierten Begriff der Avantgarde festhält. Fasst man diesen etwas weiter auf, so kommt man auf etliche Anzeichen des Avantgardismus auch in Österreich. Im vorliegenden Band wird ein solcher Versuch hauptsächlich mit Hinweis auf Oskar Kokoschkas expressionistisch geprägte Dramen und deren Inszenierungen unternommen. Eine Verbindungslinie zwischen Kokoschkas Theater und den aktionistischen Vorführungen der Wiener Nachkriegsavantgarde wäre hier allerdings als ein Defizit anzumerken.
 
Mit dieser Aufzählung ist die Liste der hier zur Dekonstruktion angebotenen 'Mythen' noch lange nicht abgeschlossen. Es wird unter anderem gefragt, inwiefern Peter Handkes Theaterstücke eine mit theatralischen Mitteln vollzogene Erweiterung seines erzählerischen Konzeptes der Suche nach alternativen Mythen verstanden werden kann. Ob Jelineks RAF-Drama 'Ulrike Maria Stuart' durchs Rütteln am Mythos der weiblichen Revolutionäre nicht auch das 'Projekt Feminismus' in Frage stellt. Ob Wolfgang Bauers frühe Stücke mit ihren grausam-fadisierten Protagonisten aus Künstler-Milieus als verzerrtes Bild der Wiener Avantgarde der 60er Jahre zu lesen wären ' im Sinn einer Entmythisierung der Wiener Gruppe.
Fazit: Der vorliegende Sammelband liefert ein facettenreiches Panorama des österreichischen Theaters des letzten Jahrhunderts, das durch die zentrale Fragestellung ' die Dekonstruktion eines Mythos ' eine bemerkenswerte Virulenz erfährt.
Die Lektüre bietet Einblick in die Vielfalt der dramatischen Konzepte der Zweiten Republik und führt nicht zuletzt zu einer viel allgemeineren Frage ' inwieweit wären alle hier 'dekonstruierten' etablierten Vorstellungen als 'Mythen' zu bezeichnen? Was haben diese Dekonstruktionen strukturell gemeinsam und ' viel spannender noch ' ob und wie diese Gemeinsamkeiten im Theater darstellbar sind? Also ' was kann Theater? Fundierte Antworten werden in 'Felix Austria' nicht in allen Beiträgen mit gleicher Prägnanz angeboten, durch eine große Auswahl an Texten und dank der relativ breiten Zeitspanne der behandelten Stücke wird allerdings eine Annäherung durchaus geboten.