In der deutschen Literaturszene ist schon seit einiger Zeit zu hören, dass Aphorismen, 'die Sprichwörter der gebildeten Menschen' (Friedrich Schlegel), keine Leser mehr hätten, weil sie zu sperrig seien und nicht den modernen Lesegewohnheiten entsprächen. Diese Behauptung erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als Fehleinschätzung, denn allen Unkenrufen zum Trotz werden sie heute in einem noch nie gekannten Maße rezipiert ' und zwar im Internet, wo nicht nur Sprücheportale wie Pilze aus dem Boden schießen, sondern auch Chatforen, in denen kurze Reflexionen, Weisheiten und klassische Zitate den offenen Meinungsaustausch anregen. Dort sind sämtliche Gedanken von Hippokrates bis Paracelsus, von Heraklit bis Adorno frei zugänglich, mit einem Maus-Klick abrufbar und benutzerfreundlich aufbereitet. Wenn aber die Neuen Medien solche Vorteile bieten, wozu bedarf es dann noch einschlägiger Anthologien? Ist der Versuch, Goethes, Hebbels oder Heines Notate in Buchform zu publizieren, nicht automatisch zum Scheitern verurteilt, wenn sie ohnehin schon digitalisiert zur Verfügung stehen? Im Gegenteil, befriedigt doch eine Anthologie gerade das Bedürfnis, das in der Informationsgesellschaft immer deutlicher artikuliert wird: das Verlangen nach Orientierung, Einordnung und Bewertung. Als 'Blütenlese' wirkt sie nämlich der im World Wide Web oft zu beklagenden 'Gleichgültigkeit des gleich Gültigen' (Konrad Paul Liessmann) entgegen, indem sie eine Textauswahl nach transparenten und intersubjektiv nachvollziehbaren Qualitätskriterien vornimmt. Da aber auch solche Sammlungen von unterschiedlicher Güte sein können, lohnt es sich, zwei Anthologien zum Aphorismus der Weltliteratur miteinander zu vergleichen, die im letzten Jahr veröffentlicht wurden.
Bei der ersten handelt es sich um eine von Dieter Lamping und Simone Frieling herausgegebene Hardcover-Ausgabe mit einem Umfang von 414 Seiten. Sie ist am 1. Oktober 2008 im Kölner Anaconda Verlag erschienen und für wohlfeile 7,95 Euro erhältlich. Beide Herausgeber, der eine Komparatistik-Professor in Mainz, die andere Malerin und Autorin, sind für das Projekt hinreichend qualifiziert. Frieling konnte bereits mit den Lesebüchern 'Von Fledermäusen und Vampiren' (Suhrkamp, 2003) und 'Deutsche Meistererzählungen: Von Goethe bis zur Gegenwart' (Anaconda, 2008) editorische Erfahrungen sammeln, während der Literaturwissenschaftler Lamping sogar einige Publikationen zu aphoristischen Schriftstellern wie Lichtenberg oder Canetti zu verzeichnen hat. Was sie hier allerdings bieten, ist enttäuschend. Vom Titel, der 'Aphorismen der Weltliteratur aus 500 Jahren' verspricht, wo doch die Anthologie erst im 17. Jahrhundert einsetzt, über das Ungleichgewicht der Beiträge − La Rochefoucauld werden 58, Stanisław Jerzy Lec und Oscar Wilde nur 5 bzw. 6 Seiten eingeräumt − bis zu störenden Nummerierungen bei Goethe, Schopenhauer und Kafka ist das Buch schon auf formaler Ebene unbefriedigend. Hinzu kommt, dass es mit textkritischen Anmerkungen geizt, kein Sachregister enthält und biographische Hintergründe außen vor lässt. Sieht man von einem knappen, stilistisch aber durchaus gefälligen Nachwort ab, das Lamping alleine verfasst hat, ist an dieser Anthologie wenig zu loben. Es stellt sich z.B. die Frage, weshalb das aphoristische Gesamtwerk der Autoren nicht berücksichtigt wurde. Im Falle von Friederich Nietzsche wurde schließlich nur auf die 'Vermischten Meinungen und Sprüche' aus 'Menschliches, Allzumenschliches' (1878) zurückgegriffen, so als sei sein ¼uvre nicht durch und durch sentenziös. Dasselbe gilt für den überaus produktiven Elias Canetti, von dem Lamping und Frieling ausschließlich 'Die Provinz des Menschen' (1973) ausgewertet haben, ohne die anderen Bände − 'Das Geheimherz der Uhr' (1987), 'Die Fliegenpein' (1992) oder 'Nachträge aus Hampstead' (1994) − einzubeziehen. Noch viel gravierender sind allerdings die Defizite der Aphoristiker-Auswahl. So weist etwa die vorliegende Sammlung eine schwer zu rechtfertigende Dominanz deutscher und österreichischer Literaten auf. Ihr Verhältnis gegenüber fremdsprachigen Schriftstellern beträgt 11:8, was den im Titel formulierten Anspruch auf Internationalität ad absurdum führt. Das ist im Übrigen auch daran abzulesen, dass mit dem Amerikaner Ambrose Bierce nur ein Nicht-Europäer vertreten ist und dass die slawische Aphoristik fast völlig ignoriert wird. Mit Ausnahme von Lec, der bloß auf wenige Einträge kommt, fehlen die Polen Karol Irzykowski, Adolf Nowaczyński, Stefan Napierski und Julian Tuwim, der Russe Michail Genin, der Slowene ´arko Petan sowie der Serbe Brana Crnčević. Dieses offensichtliche Manko ist auch nicht dadurch zu kompensieren, dass Lamping im Nachwort auf Henryk Sienkiewicz und Wiesław Brudziński verweist, zumal er deren Einfluss im selben Atemzug wieder herunterspielt: 'Sie haben als Aphoristiker vor allem international nicht dieselbe Wirkung gehabt wie alle, die in diesem Band repräsentiert sind' (S. 408). Über solche Äußerungen kann man nur den Kopf schütteln − erstens, weil Sienkiewicz als Literaturnobelpreisträger des Jahres 1905 weltweit gelesen wurde, und zweitens, weil Brudziński zu den Autoren gehört, die dank des Suhrkamp Verlags in der BRD deutliche Spuren hinterlassen haben.
Bedauerlicherweise ist dies nicht der einzige Fehler, den es im Nachwort zu berichtigen gilt. Lamping behauptet nämlich an einer Stelle, dass die Geschichte des deutschen Aphorismus' erst mit Lichtenberg beginne (vgl. S. 402), was nach heutigem Forschungsstand kaum haltbar ist. Mögen Autoren wie August Bohse (1661-1730), Karl Ferdinand Hommel (1722-1781), Sebastian Mutschelle (1749-1800), Friedrich Schulz (1762-1798) oder Friedrich Baumann (1768-1823) auch den meisten Germanisten kein Begriff mehr sein, so müssen sie doch als unmittelbare Vorläufer des Göttinger Universalgelehrten betrachtet werden. Weitere Ungenauigkeiten betreffen den Schweizer Ludwig Hohl, den Lamping irrtümlicherweise der 'deutschen Literatur' (S. 407) zuschlägt, ebenso wie Oscar Wilde, über den es heißt: 'Die 'Oscariana', wie [Wildes Frau Constance] sie genannt hat, machen vom Umfang her ein Vielfaches der einzigen Aphorismen-Sammlung aus, die Wilde publiziert hat, der 'Phrases and Philosophies for the Use of the Young', die dem Dorian Gray vorangestellt sind' (S. 403f.). Diese Aussage ist in zweifacher Hinsicht falsch. Zum einen hat Wilde die besagte Sammlung erst 1894 in der Zeitschrift 'Chameleon' veröffentlicht, zum anderen existieren zwei weitere vom Urheber selbst besorgte Zusammenstellungen: das aphoristische 'Preface' zu 'The Picture of Dorian Gray' (1891) sowie 'A Few Maxims for the Instruction of the Over-Educated' ('The Saturday Review', 1894). Daneben bleibt aber noch etwas Prinzipielles zu monieren. Indem sich Lamping und Frieling nach der unumstrittenen 'Bestenliste' (S. 406) − also den marktgängigen Namen − richten, bestätigen sie allenfalls den offiziellen Kanon und gehen mit Altbekanntem hausieren. Es ist schade, wenn Anthologisten unter dem Deckmantel von Objektivität und Repräsentativität die Unbekanntheit von Schriftstellern zementieren, die größere Aufmerksamkeit verdient hätten. Dies dürfte neben der Honorar- und Tantiemenfrage zugleich erklären, warum die Herausgeber noch lebende Autoren, beispielsweise Elazar Benyoëtz oder Franz Josef Czernin, vollkommen vernachlässigen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass Lamping und Frieling ihr Buch sowohl in höchster Eile als auch mit minimalem Recherche-Aufwand zusammengeschustert haben − vielleicht, weil der Reclam Verlag schon im Sommer 2008 die Zweitauflage einer Anthologie mit nahezu identischem Titel ankündigte.
Die Rede ist von Friedemann Spickers 'Aphorismen der Weltliteratur', die 1999 zum ersten Mal erschienen und seit dem 30. März 2009 in überarbeiteter Fassung auf dem Markt sind. Der 374 Seiten starke Band ist zwar nur geringfügig angewachsen, hat aber sein Erscheinungsbild grundsätzlich geändert. Der Bucheinband wurde dem neuen Design der Reclam Bibliothek angepasst, ebenso wie das Format, das sich von 15,7 x 10,6 auf 19,4 x 12,8 cm vergrößerte. Aber auch inhaltlich ist es zu nennenswerten Änderungen gekommen: die Autorenanzahl stieg von 55 auf 58 an, wobei Ludwig Börne, Hugo von Hofmannthal sowie Antonio Porchia hinzukamen, und die Auswahlen zu Jean Paul, Samuel Butler d. J., Elias Canetti, Michail Genin, Nicolás Gómez Dávila, ´arko Petan, Elazar Benyoëtz und Botho Strauß wurden aufgrund von Neuerscheinungen der letzten Jahre ergänzt. Parallel dazu gab es Kürzungen bei Georg Christoph Lichtenberg und Peter Handke, um − wie Spicker schreibt − 'die Proportionen zu wahren' (S. 370). In anderen Fällen, z.B. Goethe und Nietzsche, wählte der Herausgeber neue Textgrundlagen. Dies deutet bereits an, mit welcher Gewissenhaftigkeit und Präzision er zu Werke ging, doch beschränken sich seine Eingriffe nicht allein auf den Hauptteil. Im Nachwort, das den Aphorismus-Begriff ausführlich erläutert, einen hervorragenden Einblick in die Gattungsgeschichte gewährt und weiterführende Lektüreempfehlungen gibt, hat er ebenfalls Korrekturen vorgenommen; entweder zur Aktualisierung oder zur Bereinigung kleiner Fehler. So wurde unter anderem das Todesjahr von Wiesław Brudziński nachgetragen und die inkorrekte Herkunftsangabe 'der Bulgar[e] E.M. Cioran' aus der Erstausgabe (dort S. 330) durch die zutreffende 'der Rumän[e]' (S. 355) ersetzt − Maßnahmen, die den Aphorismus-Experten Spicker ehren und seine editorische Seriosität unter Beweis stellen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass er seine beeindruckende Bibliographie auf nunmehr 14 Seiten erweiterte, die Kurzbiographien zu den einzelnen Autoren auf den neuesten Stand brachte, das Themen- und Stichwortregister redigierte sowie eine begrüßenswerte Neuerung einführte: den Hinweis auf Internetseiten wie www.worldaphorism.org, www.dapha.de oder www.zitante.de, die sich dem Genre allesamt ernsthaft widmen. Was Spicker jedoch am meisten von Lamping und Frieling unterscheidet, ist seine lückenlos-akribische Werksichtung, die auch längst vergriffene Publikationen einschließt. Zudem sind die von ihm verwendeten Übersetzungen stets zuverlässig − sogar dort, wo er sie selbst angefertigt hat. Das steht erneut im Gegensatz zu dem oben besprochenen Buch, in dem etwa Wildes knackiger Aphorismus 'Only the shallow know themselves' mit dem läppischen 'Nur die Geistlosen kennen sich selbst' wiedergeben wird. Gleichwohl sind selbst bei Spicker Kleinigkeiten zu kritisieren. So kann man durchaus geteilter Meinung darüber sein, ob Peter Handke, der nach eigener Auskunft keine 'Reflexionen und Maximen', sondern 'Reflexe' ('Am Felsfenster morgens', 1998) verfasst, zu den Aphoristikern der Weltliteratur zählt. Gleiches gilt für Botho Strauß, der zwar herausragende Essays schreibt, sich in Spickers Auswahl aber weitgehend in rhetorischem Leerlauf ergeht. Für eine dritte Auflage, die dem Herausgeber zu wünschen ist, sollte man daher über andere Autoren nachdenken. Hierfür kommen vor allem Schriftsteller aus Ländern in Frage, die noch nicht repräsentiert sind − beispielweise Bulgarien, das mit Atanas Daltschew (1904-1978) einen wichtigen Aphoristiker vorzuweisen hat, Tschechien, wo neben Jan Neruda (1834-1894) die Gebrüder Josef (1887-1945) und Karel Čapek (1890-1938) wirkten, Dänemark, das Paul La Cour (1846-1908) hervorbrachte, sowie Schweden, in dem der ehemalige UN-Generalsekretär und Mystiker Dag Hammarskjöld (1905-1961) zur Welt kam. Um die auch bei Spicker vorhandene, aber von ihm selbst erkannte eurozentrische Tendenz (vgl. S. 363ff.) abzumildern, lassen sich weitere Namen nennen: der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran (1883-1931), der bengalische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Thákur (1861-1941) und − last but not least − der Inder Sri Aurobindo (1882-1950). All diese Literaten haben den ungemeinen Vorteil, dass ihr gesamtes Aphorismen-¼uvre bereits in deutscher Sprache vorliegt. Das sei freilich nur als Anregung zur Optimierung einer ansonsten makellosen Anthologie angemerkt, deren Anschaffung nachdrücklich empfohlen wird.