Mit gebotenem Respekt gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus widmet sich Nicole Warmbold einem bislang wenig erforschten Gebiet deutscher Sprachgeschichte ' der Sprache in den Konzentrationslagern. Die Ursachen hierfür sieht die Autorin in der dürftigen Quellenlage, da nur wenige Überlebende Zeugnis abgelegt haben und in den KZ verfasste Texte selten erhalten sind. Den Gegenstand der Untersuchung bildet daher die Sprache der Häftlinge auf der Grundlage von Tagebüchern und Erinnerungen, die sowohl in veröffentlichter wie unveröffentlichter Form vorliegen. Der Fokus liegt dabei auf den in ihrer Funktion und in der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft miteinander vergleichbaren Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Entsprechend liegt der Untersuchung 'ein soziopragmatischer und psycholinguistischer Ansatz zugrunde' (S. 2). Ohne auf die von der SS zugewiesenen Häftlingskategorien zurückzugreifen, rekonstruiert Warmbold gruppenübergreifende sprachliche Handlungs- und Reaktionsmuster, die von prototypischen Situationen und Bedingungen ausgehen. In der Beschreibung, Interpretation und Auswertung der Quellen verzichtet die Autorin aus Gründen der Unangemessenheit weitgehend darauf, sprachwissenschaftliche Termini zu verwenden. Schwierigkeiten sieht sie besonders darin, dass die Quellen nur schwer als Primär- oder Sekundärquellen einzuordnen sind, sowie in dem Umstand, dass eine in den KZ ausschließlich mündlich existente Varietät aus schriftsprachlichen Quellen zu rekonstruieren war.
Warmbold nimmt zwar stets sprachreflexive Äußerungen und metasprachliche Hinweise als Ausgangspunkte ihrer Analyse, dennoch bemüht sie sich darum, diese durch weitere Argumente zu stützen, um nicht Gefahr zu laufen, die Sprache der Täter in die Lagersprache aufzunehmen. Unter 'Lagersprache' versteht Warmbold eine gruppen- und kategorienübergreifende Varietät, wobei sie sich auf die deutsche Variante beschränkt. Neben der gruppenübergreifenden Verwendung sprachlicher Ausdrücke legt Warmbold als Kriterium für Lagersprachlichkeit fest, dass diese eine spezifische Reaktion auf die Bedingungen des Lagers darstellen oder spezifische Funktionen erfüllen. Fragt man, was für die Lagersprache charakteristisch ist, so findet man bei Warmbold verschiedene Spezifika: einerseits die den Bedingungen eines KZ geschuldete Lexik und entsprechende Stilebenen, zum anderen eine KZ-spezifische Semantik usueller Wörter wie z.B. 'Leben', deren Verwendung unter den Umständen der Lagerhaft zynisch erscheinen. Gerade der Verlust des referenziellen Bezuges, der Sprachgebrauchswandel ist es, den die Häftlinge in ihren Äußerungen häufig beklagen (vgl. S. 57-59). Auch deshalb lehnt Warmbold eine Beschreibung der Lagersprache auf der Ebene der langue wie auch als Gruppen- oder Sondersprache ab.
Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Autorin im Hinblick auf die Anwendbarkeit sprachwissenschaftlicher Termini, Theorien und Methoden äußerst kritisch vorgeht. Diese Sensibilität für die Singularität der KZ-Bedingungen führt zu einer besonders differenzierten und systematischen Analyse des Phänomens Lagersprache. Im Ergebnis liefert Warmbold Erklärungen für spezifische Formen des Sprachgebrauchs und lagersprachliche Sprechweisen, erläutert Unterschiede und mögliche Übernahmen aus oder Gemeinsamkeiten mit der Sprache der SS. Damit bringt sie den Nachweis, dass die Lagersprache trotz der Hierarchien und ungleichen Existenzbedingungen in der Lagergesellschaft und trotz gruppenspezifischer Aktualisierungen (vgl. die in Kap. E 'Annäherungen' ausführlich behandelten Existenzformen der Lagersprache, die Warmbold als Lagersoziolekte, -jargons und 'situolekte klassifiziert) auf eine gemeinsame Grunderfahrung des Lagerlebens verweist, die gruppenübergreifende Verhaltensweisen und (Sprach-)Handlungsmuster zur Folge hatte. Interessant macht die Untersuchung auch, dass die Autorin jeweils nach der Funktionalität lagersprachlicher Ausdrücke und Kommunikationsweisen (z.B. Gerüchten oder Witzen, vgl. Kap. I, 'Sprache zwischen Anpassung und Gegenwehr', S. 244-299) fragt. Dabei treten drei potenzielle Funktionen der Lagersprache hervor: die Möglichkeit, das Grauen und die Erniedrigung im KZ adäquat abzubilden (vgl. etwa die Benennungsalternativen zu 'sterben' in Kapitel I.4 'derb-roher Stil', S. 55f.), außerdem Selbstschutz und emotionale Entlastung (vgl. das Beispiel 'Muselmann' in Kap. I.8 'Schimpfwörter, Hohn und Spott', S. 281-283), schließlich die Möglichkeit, die menschenverachtende Praxis der SS zu entlarven. Mit ihrer Untersuchung ist es Nicole Warmbold gelungen, anhand von Sprache ein nachvollziehbares Psychogramm des KZ-'Alltags' insgesamt zu entwerfen. Dass sie dabei die Texte Überlebender häufig sprechen lässt, ist ihr nachdrücklich zu danken. Ein am Ende der Arbeit stehendes Register verzeichnet die lexikalisierten Lemmata und erleichtert den Vergleich mit älteren Einzelstudien und die Untersuchung weiterer Texte.