Interkulturalität und Intertextualität
Elias Canetti und Zeitgenossen

Das gerettete Puzzle: Ein Sammelband zeigt allerhand Berührungspunkte in und um Elias Canettis Werk. Wer in den vergangenen Jahren eine Tagung veranstaltet und dem daraus resultierenden Sammelband den Titel 'Interkulturalität und Intertextualität' gegeben hat, könnte sich zwei Vorbehalten gegenübersehen: dem der mangelnden Originalität ' denn kaum ein Terrain wurde in Geisteswissenschaften im vergangenen Vierteljahrhundert häufiger und nachhaltiger beackert ' und dem des Auffangcharakters dieser Bezeichnung; in dem Präfix 'Inter' verbirgt sich nahezu eine Heilserwartung der Vermittelbarkeit bislang weitgehend isolierter Bereiche, vormals voneinander Getrenntes und Eigenständiges wird durch das 'inter' gewissermaßen zusammengezwungen. Was ist nicht alles international, interdisziplinär, interaktiv, oder eben interkulturell oder intertextuell?
Wie notwendig und auch gewinnbringend jedoch das Kriterium gerade der Interkulturalität für bestimmte Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts ist, die sich häufig schicksalsbedingt und damit oft unfreiwillig zwischen den Welten bewegen mussten, zeigt das Jahrbuch der Germanistik in Bulgarien, Germanica 2006, das Maja Razbojnikova-Frateva und Hans-Gerd Winter unter eben diesem Titel  von 'Interkulturalität und Intertextualität' anlässlich des 100. Geburtstages von Elias Canetti herausgegeben haben.
Die Spuren von Canetti ziehen sich durch ganz Europa, von seinem Geburtsland Bulgarien, nach England, von dort nach Österreich, in die Schweiz, wieder nach Österreich, zwischendurch nach Deutschland und dann ab 1938/39 nach England und 1972 schließlich zurück in die Schweiz.  Das Entscheidende dieser anhaltenden Rast- und damit einhergehenden Heimatlosigkeit ist nicht nur Canettis Vielsprachigkeit, sondern auch die damit verbundene Unfähigkeit, in nur einer Sprache und Kultur heimisch zu werden: 'In einer Sprache werde ich nie sein können' schrieb Canetti, meinend, diese eine Sprache nicht 'fühlen' zu können.
Inter-Sprachlichkeit und Interkulturalität bedingen sich gegenseitig. Dass sich Canetti dennoch 'zeitlebens als deutschsprachiger Schriftsteller gefühlt hat' (S. 68), sieht Jörg Riecke (Gießen/Heidelberg) in der Abgrenzung vom Jiddischen, die Canettis Eltern, aber schließlich auch ihn zum Deutschen als Literatursprache geführt hatte. Jenseits dieses Sprachvermögens, verdankt sich die Intertextualität innerhalb Canettis Werkes der von ihm gewählten Daseinsform, der Existenzberechtigung des Dichters, der seine 'bescheidene Aufgabe' im 'Weitertragen des Gelesenen' sieht oder ' um das Bild im Titel der 'Geschichte [s]einer Jugend', der 'Geretteten Zunge' zu zitieren ' in der Rettung eben dieser Zunge oder Sprache, nicht nur durch den Autor selbst, sondern auch, wie es in der Einleitung des Bandes heißt, durch den 'produktiven Leser' (S. 15).
Auch wenn Emilia Staitscheva (Sofia) Canettis bulgarisches Erbe in seinen autobiographischen Schriften gerettet findet, so überzeugt Manfred Durzak (Paderborn) in seinem Beitrag über Canetti als 'europäischen Autor', dass die Vereinnahmung Canettis, welcher topographischer Art auch immer, nicht unbedingt hilfreich ist, diesen vielschichtigen, aus kultureller Vielfalt schöpfenden Autor zu erfassen. Welche Wirkungen dieses Werk hatte oder hätte haben können, zeigt etwa das von Mark Arenhövel (Gießen/Sofia) inszenierte 'Zwiegespräch' zwischen Canetti und Giorgio Agamben über den Tod, die 'Ambivalenzen der Sterblichkeit' im Vergleich zu Georges Bateille (Roger Fornoff, Sofia),  oder, wie Karol Sauerland (Warschau) vorführt, wenn man  die Machtbegriffe von Canetti, Hermann Broch und Hannah Arendt zusammendenkt.
Wie unterschiedlich gerade das Thema 'Lebensanschauung und Todesbild' (S. 291) sein können, zeigt Hans-Gerd Winter (Hamburg) an Hand von Max Frischs Begegnung mit Canetti in den siebziger Jahren, wo Frisch (nachträglich) in sein Tagebuch notierte, Canetti sei 'gegen jedes Denken, das den Tod anerkennt', also auch gegen seines, der er sich 'mit dem Tod zu gemein gemacht [hat], ihn zu bestehen' (Canetti über Frisch).
Solche und viele andere Begegnungen tatsächlicher oder intellektueller Art, etwa mit Kafka, Karl Kraus, Joseph Roth, mit Hesse, Heidegger und Brecht bis in die Gegenwart mit Autoren wie Botho Strauß oder Elfriede Jelinek wie auch der Reigen der hier gezeigten Eigen- Fremd- und Weltbilder Canettis (zu Aspekten des Akustischen, des Flaneurs oder und immer wieder des Fremden und Anderen) ergänzen sich zu einem großen Puzzle, das an das Europa-Puzzle erinnert, das Canetti als kleiner Junge geschenkt bekommen hatte. In der 'Geretteten Zunge' beschreibt er, wie er zum großen Erstaunen und unter 'teurer' Anerkennung des Vaters im Nu gelernt hatte, die Teile und mithin Europa blind zusammenzusetzen. Diesen Autor in seiner intertextuellen wie auch interkulturellen Vielschichtigkeit begreifbar zu machen, bedarf, wie dieser Sammelband überzeugend vorführt, deutlich größerer Anstrengungen: Das Puzzle eines Schriftstellerwerkes hat unendlich viele Einzelteilchen, die sich ' zum Glück ' nicht so schnell beziehungsweise wohl niemals zu einem abschließenden Bild zusammenfügen lassen.