Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski

Am 29. April dieses Jahres würde Kempowski seinen 80. Geburtstag feiern können ' nach seinem Krebstod im Oktober 2007 findet die Feier nun ohne ihn statt und vermutlich deshalb auch in kleinerem Rahmen. Pünktlich zum Fest erscheint nun 'Näheres über Kempowski', verfasst von einem, der ihm wohl näher, aber nicht nahe stand. Wer eine Biographie des Jubilars erwartet, wird enttäuscht. Schon die erste Seite verweist auf Hempels bürgerliche Biographie Kempowskis, deren Leistung Henschel nicht wiederholen und statt dessen eine perspektivenreiche Sicht auf 'Kempowskis Werke, seine Denkweise, sein Temperament und seine öffentliche Rolle' in fünf thematisch getrennten Kapiteln anstellen will. Das Ergebnis ist einer Dissertation ähnlich, ' der wissenschaftliche Handlungsbedarf gegenüber Leben und Werk Kempowskis mag einer der Beweggründe für Henschels Publikation sein ' aber nicht ähnlich genug, um fachfremde Leser zu verschrecken. Allzu persönlich ist der Ton, den Henschel anschlägt, gewürzt mit Auszügen aus privater Korrespondenz und nicht wenigen Spitzen gegen die 'Weltliteraten vom Bodensee oder aus Wewelsfleth', als dass er Gefahr liefe, sein Porträt zu einer wissenschaftlichen Abhandlung geraten zu lassen. Dazu fehlt freilich auch die Kenntnisnahme der vorhandenen Forschungsliteratur, denn trotz zahlreicher Fußnoten bleiben Fachpublikationen fast gänzlich unberücksichtigt; Zeitungsartikel und Belegstellen aus Kempowskis Veröffentlichungen nehmen den Großteil der Anmerkungen ein. Deutlich wird so die Bemühung Henschels, statt Forschern Kollegen aus Frankfurter Zeiten zu Wort kommen zu lassen, besonders solche ' wie etwa Bernstein, Gernhardt, Goldt ' denen Wissenschaftler und Preisjuroren bis dato ebenfalls die Aufmerksamkeit versagt haben. Forschungsleistungen der Germanistik bleiben ebenso unbeachtet wie die verspätete Erkenntnis der Kritiker und Juroren, Kempowskis Chronistentätigkeit sei in höchstem Maße anerkennenswert. Auch die im Begleittext versprochenen 'zahlreichen unveröffentlichten Dokumente' bleibt der Text schuldig ' es sei denn, Auszüge aus privater Korrespondenz via e-mails gelten schon als 'Dokumente'.  
Dass Kempowski bis zur Veröffentlichung des monumentalen 'Echolot' eine Randerscheinung im deutschen Kulturbetrieb geblieben ist, macht Henschel zum Inhalt des Löwenanteils seiner Betrachtungen und ' so die Überschrift des ersten und längsten Kapitels ' kurzerhand zu Kempowskis 'Image': der verkannte Dichter, der sich in der provinziellen Abgeschiedenheit häuslich einrichten muss, weil er als Spätestheimkehrer aus kommunistischer Gefangenschaft den Anschluss an die politischen Realitäten der Bundesrepublik versäumte. Mit beachtlichem Fleiß hat Henschel diverse und auch diverse marginale Quellen zusammengelesen, die ihm belegen, dass der deutschen Journaille, je nach politischer Ausrichtung des Blattes, Kempowski bestenfalls als verschrobener Beckmesser, schlimmstenfalls als reaktionärer Rechtsausleger galt, dessen als trivial-humoristisch verschrieene Romane die deutsche Vergangenheit unsachgemäß verklären. Diese Fehlurteile sind wie gesagt spätestens seit Echolot und Verleihung des Bundesverdienstkreuzes überholt; genüsslich zieht Henschel sie alle noch einmal heran, um als Besser-spät-als-nie-Wisser zu firmieren.
Lesenswerter als solche Seitenhiebe nach rechts wie links sind seine Ausführungen über Kempowskis 'Arbeitsmacke', die sich thematisch an die Ausführungen des ersten Kapitels wirksam anschließt: Einmal vom Feuilleton in die Ecke gestellt, macht Kempowski es sich dort eben bequem, nutzt Lesungen, Seminare und rare Fernsehauftritte, um sich selbst als cholerischen Querkopf zu stilisieren und genießt insgeheim die Konsternierung, die seine Ausbrüche auslösen. Trotz seines Scharfblicks für das Theatralische dieses Gebarens begegnet Henschel, der ja selber mehrfach als Auslöser für solche Wutausbrüche herhalten musste, dieser 'Arbeitsmacke' mit dem gebührenden Ernst und begreift sie als ein Resultat von gut vermischter 'Schauspielerei' und 'reiner Bösartigkeit' ' so versteht sich auch seine Sichtweise auf Kempowski und das beinahe tragische Bild, das er abgibt: 'Ein seelisch verletzter Mensch, der im Leben nicht so recht auf seine Kosten gekommen ist, der die glücklicher agierenden Kollegen beneidet und eine gewaltige Wut im Bauch hat.'  
Umso verstörender gerät dieses Bild, wenn Kempowskis Aggressivität Niederschlag in seiner Sexualität finden soll. Zur Erhellung dieses Themas sieht Henschel sich genötigt, seine kundige Lesart der 'Hundstage' heranzuziehen, deren Protagonist Sowtschick, verstanden als eine Art alter ego seines  Urhebers, Rückschlüsse auf die Gefühlslage des Autoren ermöglicht und zulässt. Sowtschick laviert in seinen Tagträumen zwischen Unterwerfung und Dominanz, fällt von kannibalischen Gelüsten in hingebungsvollen Devotismus und kokettiert immer wieder mit pädophilen Neigungen. Eine von Henschel durchgeführte gründliche Durchsicht von Kempowskis Gesamtwerk trägt weiterhin all jene Stellen zusammen, die sich trotz der in den Romanen waltenden Diskretion mehr oder weniger eindeutig in dieses Bild fügen; das Ergebnis bestätigt Kempowskis lakonische Selbstdiagnose, er sei 'sexuell ein kaputter Typ'. Leider wird der inszenierende Kunstgriff, diesen Kommentar gerade in 'Sirius' zu lancieren, von Henschel nahezu übersehen; allzu bereitwillig ist er geneigt, die Eigenschaften von Romanfiguren auf ihren 'nachweislich seelenverwandten' Urheber zu übertragen und dieses Verfahren als 'psychoanalytische Deutung' zu bezeichnen. Ein solcher Nachweis ist freilich durch das Aufzeigen rekurrenter Motive in Romanen und publizierten Tagebüchern, auf denen Henschels Beweisführung basiert, noch lange nicht gegeben. Auch Verweise auf die Erfahrungen der Haftzeit in Bautzen machen diese Angelegenheit nicht einleuchtender; hier wird die Tendenz zu einem Biographismus deutlich, der literarische Werke als Dokumente, fiktionale Charaktere als Ebenbilder missversteht.
Die Verhaftung von Bruder und Mutter leitet dann eine Betrachtung der 'Schuld' Kempowskis ein, auf deren leitmotivischen Charakter Hempels Biographie bereits verwiesen hat. Von beeindruckender Gründlichkeit ist auch bei Henschel die Werksicht, die dieses Kapitel bildet, noch vermehrt um die Frage nach der schuldhaften Verstrickung der Familie Kempowski und ihres Milieus in die Verbrechen der NS-Diktatur. Dass Kempowskis Schilderungen des Bürgertums vor 1945 beileibe keine verklärenden Apologien, sondern hocheffektive Satiren sind, ist Henschel wohlbekannt. Trotzdem verliert er das Ziel aus den Augen, wenn er die Familie aus 'Tadellöser und Wolff' und 'Uns geht's ja noch gold' zu 'Mitläufern' stempelt. Hier wird seine Lesart einseitig und gerät an den zentralen Aussagen der betreffenden Texte vorbei ' die treffliche Attestierung der 'Wohlhäbigkeit' von Familie Kempowski liefert da ein prägnanteres und besseres Urteil.
Die weiteren Kapitel über Kempowski als Pädagoge und Kempowski als Bauherr und Bewohner von 'Haus Kreienhoop' sind ebenfalls sorgfältig recherchiert und in ansprechendem Duktus dargeboten; allerdings bleiben sie im Tenor des Werks Fremdkörper, denen der Anschluss an die übrigen Inhalte abgeht. Hinzu kommt, dass bereits in Hempels Biographie beide Themenkomplexe umfassend und anschaulich präsentiert werden ' die Informationsdichte in Henschels Version ist hoch, trotzdem ist für den Kempowski-Kenner nicht viel Neues zu entdecken.
Diese Erkenntnis wirft die Frage auf, an welchen Leser sich Henschels Ausführungen eigentlich richten. Den Literaturwissenschaftlern scheint das Werk sich durch Anspruch und Aufmachung anzudienen; als Konkordanz und diskussionswürdige Lesart von Kempowskis Chronik kann es auch durchaus einigen Anspruch auf Nützlichkeit erheben. Als wissenschaftliche Monographie genügt es jedoch den Ansprüchen nicht: zu selten werden fachspezifische Quellen herangezogen, zu viele davon bleiben unerwähnt, zu unsachlich geraten die Ausfälle gegen Kempowskis Verächter.
Der interessierte Laie hingegen muss für eine gewinnbringende Lektüre schon vorab reichlich versiert sein: Henschels Lesarten setzen einige Textkenntnis voraus, mit seinem gewandten Lavieren zwischen biographischen Details und Textsplittern kann ein unkundiger Leser nicht lange Schritt halten. Wer tatsächlich 'Näheres' über Kempowski erfahren will, ist mit der Biographie von Hempel besser bedient und findet darüber hinaus einen stringenter konstruierten Text vor. Henschels Flanieren durch Werke, Dokumente, Zeitungsartikel und Kommentare geschätzter ' und weniger geschätzter ' Kollegen hat durchaus seinen Reiz, lässt aber einen roten Faden und eine deutliche Intention vermissen, die den Ausführungen einen Impetus verleihen könnten, der auf persönliche Spitzen verzichtet. 'Weiteres über Walter Kempowski' wäre der treffendere Titel gewesen.