Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundert

Der Hammer-Verlag beging 2006 seinen 40. Geburtstag und Léopold Sédar Senghor wäre 100 Jahre alt geworden. Dieser Doppelgeburtstag fällt zusammen mit der Veröffentlichung einer umfangreichen Senghor-Biografie durch den Afro-Romanisten János Riesz aus Bayreuth. Der Autor ist einer der besten Kenner des frankofonen Afrikas, einer der aktivsten Literaturvermittler zwischen Afrika und Europa und ein passionierter Wortführer und Verteidiger afrikanischer Interessen und Standpunkte. Der Hammer-Verlag bleibt verbunden mit unzähligen, aufschlussreichen Publikationen zur sogenannten Dritten Welt und dem Namen Johannes Rau, der hier seine Lehre als Buchhändler absolvierte und Zeit seines Lebens diesen unkonventionellen Verlag unterstützte.
Riesz ist in erster Linie Literaturwissenschaftler, kein Politik- oder Sozialwissenschaftler, dennoch beweist er, dass die Literatur ein ausgezeichneter und einzigartiger Zugang ist zu einer Person, die sich durch ihre historische Funktion, ihre politische Mission und eine hochdifferenzierte Persönlichkeit auszeichnet. Die Hauptquellen Riesz' bilden das literarische und essayistische Werk des großen Senegalesen, der zwanzig Jahre Staatspräsident Senegals war und nach seinem freiwilligen Rücktritt 1980 ein demokratisch strukturiertes Land mit einer aktiven Opposition und einer für afrikanische Verhältnisse vorbildlichen Meinungsfreiheit hinterließ. Senghor, weltweit bekannt als Mitbegründer der umstrittenen Négritude, wegen seiner frankreich- und deutschlandfreundlichen Haltung kritisiert und zugleich umworben, erhielt er 1968, begleitet von Studentenprotesten, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Riesz arbeitet das politisch-zeitgeschichtliche Profil des Staatsmannes Senghor heraus: Wegbereiter der Unabhängigkeit im Marsch durch die kolonialen Institutionen, als Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung, als eigenwilliger Visionär in seinem Engagement gegen die Balkanisierung (West-)Afrikas, als Kontrahent Houphouët-Boignys aus der Elfenbeinküste und seines RDA (Rassemblement Démocratique Africain, gegr. 1946), den vorsichtig taktierenden Demokraten im allmählichen Aufbau eines Mehrparteiensystems nach der Unabhängigkeit: mit zunächst einer Einheitspartei, dann mit einem auf drei Parteien begrenzten Spektrum, das später unter seinem Nachfolger Abdou Diouf rasch auf nahezu zwanzig Parteien proliferierte. Ohne ihn wäre aber die Doppelanbindung an die OUA (Organisation für afrikanische Einheit) und die Frankofonie ebenso wenig denkbar wie der demokratische Sieg des liberalen Präsidenten Abdoulaye Wade, der nach einem langen politischen Kampf in der Opposition seit 2000 Senegal als Staatspräsident regiert. Die von ihm 1948 gegründete Partei BDS (Bloc Démoratique Sénégalais) ist ebenso wie die UPS (Union Progressiste Sénégalaise, gegr. 1958) die afrikanische Fortsetzung der Section de l'Internationale Ouvrière (SFIO), der er in den 30er Jahren in Frankreich angehörte, die dann 1978 in die Parti Socialiste (PS) mündete. Die Wechsel der Nomenklaturen weisen auf die allmähliche Emanzipation von Frankreich und dessen politischen Bewegungen hin und zeigen zugleich die Anlehnung an europäische Parteitraditionen und die Herausbildung eines eigenen afrikanischen Profils.

In 14 übergeordneten Kapiteln löst der Verfasser ein, was der Titel verspricht: Senghor als Symbolfigur des afrikanischen Aufbruchs vorzustellen. So tritt die Person vielfach hinter der Analyse historisch-gesellschaftlicher Geschehen in ihrer Bedeutung und Rückwirkung auf Senegal und Afrika zurück, darunter:

' Senegal als Kolonie und das frühe Entstehen demokratischer Strukturen
' der 1. und 2 Weltkrieg
' das politische Zusammenspiel französischer und (west-)afrikanischer Politik
' die Nachkriegszeit
' die panafrikanische Bewegung
' die Unabhängigkeit, die Frankofonie und westafrikanische Balkanisierung
' die Bewegung der Négritude

Es wird ein differenziertes, vielseitiges Bild des kleinen westafrikanischen Senegals gezeichnet, mit einer Kolonialgeschichte, in der das Mutterland es verstanden hat, die Kolonie an- und einzubinden in politische Mitverantwortung durch die Verleihung der französischen Staatsbürgerschaft an die Bürger der sogenannten Quatre communes (Saint-Louis, Gorée, Rufisque und Dakar), durch die Einrichtung eines Parlamentes, des Conseil Général in Saint-Louis im Jahr 1878, die Entsendung eines Abgeordneten in die französische Nationalversammlung und Senghors Verhältnis zu der schillernden Figur des ersten schwarzafrikanischen Abgeordneten Blaise Diagne, dem er seine politische Karriere zu verdanken hat, mit dem er aber in dessen Kampagne für die Rekrutierung afrikanischer Soldaten für den ersten und zweiten Weltkrieg, der sogenannten tirailleurs sénégalais nicht konform ging. Senghor, der selber im 2. Weltkrieg auf europäischen Kriegsschauplätzen eingesetzt wurde, hat sich später in seinem Gedichten ('Hosties Noires', 1948) deutlich mit den tirailleurs sénégalais als 'ahnungslosen Opfern' identifiziert, hüllte sich aber Blaise Diagne gegenüber in Schweigen, weil er dessen Protektion als Mentor genoss und ihm u.a. die Erlangung der französischen Staatsangehörigkeit verdankte.
Die Entwicklung Senegals, der ältesten und am engsten an das Mutterland Frankreich angebundenen Kolonie von der Gründung Saint Louis' im Jahr 1659 bis hin zur politischen Unabhängigkeit, ist eng verbunden mit dem Namen Leopold Sedar Senghors. Am 6.10.1906 in Joal (Siné-Saloum) geboren, fühlt er sich von Anfang an den historischen Wurzeln seines Landes verbunden und verfolgt im Sinne der vorgezeichneten Entwicklung und der bestehenden Kräfteverhältnisse den Weg zur Unabhängigkeit von der Metropole und für die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung. Die Zugehörigkeit zur Frankofonie wird zum geringeren Übel angesichts des Scheiterns einer westafrikanischen Föderation und der Mali-Föderation sowie der sich abzeichnenden Balkanisierung Westafrikas. Im Zielekatalog des emanzipatorischen Prozesses stehen neben der Förderung der afrikanischen Identität, ihrer Kulturen und Sprachen, der Respekt und die Wertschätzung europäischer humanistischer Traditionen. Beide finden symbiotisch Eingang in ein auf grundlegend afrikanischen Wurzeln aufgebautes Weltbild. Nicht zuletzt wegen dieser Kompromissbereitschaft, die Gegensätze zusammenbringt und überschreitet, wird Senghor von insbesondere jungen Afrikanern scharf kritisiert, gibt es schon sehr früh Kritiker der Négritude, die ihn als 'Afrikaner mit europäischer Seele', als Handlanger und unterstützenden Ideologen von Rassismus und Kolonialismus angreifen. Riesz geht diesem Konflikt bis in die ersten autobiografischen Zeugnisse über seine Schulzeit bei den Weissen Vätern im Collège Libermann in Dakar nach, wo Senghor die Demütigung als Afrikaner angesichts der Überheblichkeit französischer Kultur in der Person des Schuldirektors erfuhr.
Nur am Rande wird die besondere Rolle Senghors in seinem Verhältnis zu Deutschland deutlich. Als Begründer und Anhänger der Frankofonie hat er immer ein priviligiertes Verhältnis zu Deutschland, zur deutschen Geistesgeschichte und deutschen Sprache gehabt. Rückt er doch in zahlreichen Publikationen Négritude und Germanité in einen Zusammenhang, was ihn häufig zur Zielscheibe der Kritik machte. Unter dem Außenminiser Willi Brand unterzeichnet er 1968 ein Kulturabkommen, das die gegenseitige Förderung der jeweiligen Sprachen der Länder Deutschland und Senegal und die Einführung des Deutschen als erster Wahlpflichtsprache in den Sekundarschulen besiegelte. Andere (west)afrikanische Länder schlossen sich dieser Initiative an, was zu einer hervorgehobenen politischen Beziehung zur Bundesrepublik führte mit der Konsequenz der Gründung eines Instituts für Germanistik an der Dakarer Universität und wirtschaftlichen Beziehungen, die in allen Bereichen sichtbar und wirksam sind.
Riesz sieht in einer Rede Senghors, die er als junger Agrégé (der klassischen Sprachen Latein und Griechisch) vor der Handelskammer in Saint-Louis im Jahr 1937 hält, den Beginn seiner öffentlichen Karriere. Hier äußert sich der intellektuelle Afrikaner zu brennenden Fragen des kolonisierten Kontinents und entwirft das Leitbild eines künftigen Negers (197ff.). In dieser weniger bekannten Rede vertritt Senghor Positionen, die er in seinem künftigen politischen Geschäft wieder verlassen wird. Dies trifft vor allem auf den Stellenwert der afrikanischen Sprachen im Bildungs- und Schulsystem zu, die er hier noch als wichtigstes, da identitätsstifendes Ausdrucksmittel für Schule und Literatur empfiehlt.
Senghor findet in seiner persönlich-biografischen Dimension immer dann ausführlich Berücksichtigung, wenn es darum geht, ihn als Symbolfigur für den von Riesz ins Zentrum gestellten 'afrikanischen Aufbruch', der bereits im 19. Jahrhundert, mitten in der Kolonialepoche ' und nicht erst mit der politischen Unabhängigkeit im Jahre 1960 ' begann, zu sehen. Andere, wenngleich wichtige biografische Daten ' wie etwa seine Eheschließung, der tragische Unfalltod seines Sohnes Philippe Maguilen ' werden eher am Rande, eingeflochten in die Darstellung größerer Kontexte erwähnt. Es handelt sich nicht um eine herkömmliche Biografie, die Person Senghor wird stets in einen größeren historisch-kulturellen und politischen Kontext gestellt.
Transkontinentale Verbindungen zu den Schwarzen in der Diaspora kennzeichnen Senghor, seine Verbundenheit zu denjenigen, deren Vorfahren als Sklaven verschleppt wurden und denen, die in der Heimat geblieben sind. Seine Beziehungen zu Claude Mac Kay aus Jamaika, zu Langston Hughes, zu Du Bois und Carter G. Woodson sind entscheidende Anstöße für die Négritude, die sich eindeutig ' und aller Polemik und kritischer Stimmen in den eigenen Reihen zum Trotz ' von Anfang an als transatlantische, antikoloniale Solidaritätsbewegung mit ästhetischem Anspruch verstand. Sinnfällig lässt Riesz dieses an der folgenden Situation werden: Bei seiner Begegnung mit dem äthiopischen Kaiser Haile Selassi 1966 in Dakar rezitiert Senghor (als Staatspräsident) das Gedicht 'Call of Ethiopia', das Langston Hughes dreißig Jahre zuvor als Protest gegen den italienischen Überfall auf Äthiopien verfasst hatte, ein Ereignis, von dem er in Paris erfuhr und das ihn zutiefst aufgewühlt und erschreckt hat (181 ff.). Hier wird die multiple Rolle Senghors und auch der von ihm vertretenen Bewegung deutlich: Er tritt zugleich als (Pan-)Afrikaner, Staatsmann, Poet und Widerständler auf. In den vielen, sorgfältig recherchierten und an den geeigneten Stellen angeführten Einzelsituationen, die das Buch beschreibt, wird der Leser immer wieder mit Neuigkeiten, Überraschungen und intelligent arrangierten Aperçus konfrontiert. So kommt es nie zu einem vereinfachten Bild der Wirklichkeit ' weder in der afrikanischen Geschichte, noch in der Person des beschriebenen Senghor ' mit jedem Kapitel, ja mit jeder Zeile schreibt der Biograf gegen Klischeebildung und Simplifizierung an.
Dass Riesz sich bei seinem Plädoyer für Kulturen, Literaturen und die politische Geschichte des frankofonen Afrikas keinen Illusionen hingibt, wird an zwei Aspekten augenfällig: Er beginnt sein Buch mit einem Topos, der skeptischen Einschätzung der afrikanischen Geschichte und Zukunft. In einer Zeit, in der sanfter Tod und humanes Sterben die Debatte um Alter und Siechtum bestimmen, glaubt niemand so recht daran, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt, in beginnender Agonie noch Sinn macht, sich um das Weiterleben eines Patienten zu bemühen und das Leben zu verlängern. Riesz allerdings, sich selbst der prekären Situation des ältesten Kontinents bewusst, begibt sich an die Reanimation des Patienten, versucht den Tod des afrikanischen Kontinents, der laut dem Historiker Ki-Zerbo aus Burkina-Faso am Tropf hängt und den letzten Waggon eines langen Zuges bildet, aufzuhalten und erweckt ihn neu zum Leben, indem er eine originelle, weitgehend unbekannte und hoch komplex verlaufende Phase seiner jüngsten Geschichte nachzeichnet. Ungeachtet des möglicherweise unwiederbringlichen Untergangs dieses Kontinents, der sich in einem desaströsen Zustand befindet, gelingt es Riesz, den Reichtum Afrikas am Beispiel Senegals und der AOF in Wert zu setzen, gleichzeitig lernen wir ein Frankreich kennen, das sich in seinem kolonialen Denken und Handeln deutlich von seiner Rolle in Europa unter Europäern unterscheidet. Sich vom 'Afropessimismus' distanzierend, valorisiert der Biograf Senegal im Schlusskapitel ('Epilog') trotz aller Bedenken unter ' geschicktem ' Rückgriff auf Kategorien und Kriterien politisch-kultureller Zuordnung des BTI (Bertelsmann Transformation Index 2006): Senegal ist unter den am besten platzierten Ländern Afrikas (330/3319). Trotz der Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, bewegt sich das Land im oberen Drittel des Ranking afrikanischer Länder, was seine Entwicklungsfortschritte und sein politisch-wirtschaftliches Gestaltungsvermögen angeht. Außerdem beweist es seine Sonderstellung in der Buchproduktion: unter den 'Top 12' der afrikanischen Länder. Senegal steht an dritter Stelle mit gleich zehn Autoren: Senghor, Cheikh Anta Diop, Mariama Bâ, Birago Diop, Ousmane Sembène, Cheikh Hamidou Kane, Ken Bugul, Djibril Tamsir Niang, Boubacar Boris Diop und Birago Diop.