Wilfried Härle, Jahrgang 1941, war Professor für Systematische Theologie an den Universitäten Marburg (1978-1995) und Heidelberg (1995-2006). Seit 1992 ist er Mitglied und seit 1998 Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Von 2003 bis 2005 war er Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 'Ethik und Recht der modernen Medizin'. Härles Bibliographie umfasst rund 300 Titel, die ihn als vielseitig interessierten Theologen ausweisen. Er ist Verfasser eines Lehrbuchs der Dogmatik, hat aber auch immer wieder aus theologischer Perspektive zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung genommen. So hat er sich beispielsweise zur Atomenergie und zur Friedensarbeit geäußert.
Mit seiner neuesten Veröffentlichung gibt Härle einen Gesamtüberblick über einen Zeitraum von gut 200 Jahren. 'Dabei wurde darauf geachtet, dass möglichst viele der relevanten theologischen Konzeptionen, Schulen oder Richtungen mit mindestens einem Text vertreten sind.' (S. VI).
Das Kompendium enthält 43 Auszüge wichtiger Werke von 1799 (Friedrich Schleiermacher) bis heute (Wolfgang Huber). Vorangestellt ist den Texten eine ausführliche Einleitung, die nicht dazu dienen will, die Autoren biografisch vorzustellen, sondern das Verstehen ihrer Texte zu erleichtern, die die theologische Debatte der jeweiligen Zeit repräsentieren.
Einleitung ' nicht Kommentar oder Nachwort ' weil Härle damit der hermeneutischen Erkenntnis Rechnung trägt, dass sich das Einzelne nur aus dem Ganzen erschließt und umgekehrt.
Die sparsam verwendeten Fußnoten erläutern im Text verwendete Begriffe und geben die Quellen der Zitate an oder verweisen auf leicht erreichbare (und preiswerte!) Studienausgaben wichtiger theologischer Werke.
Die 47-seitige Einleitung gibt schon für sich einen ausgezeichneten Überblick über die theologischen Ideen der letzten 200 Jahre. Der begrenzte Umfang für die Einleitung (und die Textauszüge) zwingt den Verfasser zu einer komprimierten Darstellung. Damit trägt Härle didaktischen Erfordernissen Rechnung, und das ist ein besonderes Verdienst des Buches, das zu Recht beansprucht, eine gute theologiegeschichtliche und systematisch-theologische Grundlage für das Studium und Examen sowie für die Berufstätigkeit von Theologen zu vermitteln. Das Arbeitsbuch informiert aber auch interessierte Nichttheologen.
Anlass ' und darauf weist schon das Stichwort 'Grundtexte' im Titel hin -' war 'die immer wiederkehrende Frage von Studierenden, welche theologischen Texte man denn im Studium gelesen haben müsse, um einen guten Überblick über die evangelische Theologie zu bekommen und hinreichend Bescheid zu wissen.' (S. V) Dieser berechtigten Anfrage hat Härle lange nicht entsprochen. Ein Band hätte seiner früheren Meinung nach für die Realisierung eines Sammelwerkes klassischer Texte der neueren evangelischen Theologie nicht ausgereicht. Zu viele Passagen wichtiger Werke wären gut begründbar in Frage gekommen. Welche davon in einem solchen Band hätten aufgenommen werden müssen, wäre nur schwer entscheidbar gewesen, so dass man wohl doch zu einer mehrbändigen Ausgabe hätte kommen müssen. Allerdings hätte er so dem Bedürfnis von Studierenden nach zuverlässiger und überschaubarer Erstinformation wohl kaum entsprechen können.
Härle sucht das Problem durch eine zeitliche und eine inhaltlich Beschränkung zu lösen. E. Hirsch hatte in seinem fünfbändigen Werk die 'Geschichte der neuern evangelischen Theologie' mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648, also mit einem politischen Datum, beginnen lassen. Härle folgt W. Pannenberg, der die neuere evangelische Theologie 1799 beginnen lässt, dem Jahr, in dem Schleiermachers Reden 'Über die Religion' erschienen sind. Diese Abgrenzung ist wohl begründet. Mit der Aufklärung hatte die Theologie ihre Vorrangstellung gegenüber den anderen Wissenschaften, insbesondere gegenüber der Philosophie, verloren. Das legt I. Kant in seiner Schrift 'Streit der Fakultäten' überzeugend dar. Mit seinen 'Reden' hat Schleiermacher den Gegenstand der Theologie, nämlich die Religion, neu bestimmt. Dieser Ansatz bedeutet eine Zäsur und prägt die Theologie in der Folgezeit und er eröffnet einen neuen Dialog mit den Wissenschaften insbesondere der Philosophie.
Bei der Auswahl stand der Verfasser vor einem schwierigen Problem, denn mit guten Gründen hätten sich auch andere Texte finden lassen, die den Anspruch erheben könnten 'Grundtexte' zu sein. Dennoch dürfte es einen breiten Konsens für die Auswahl-Entscheidungen Härles geben. Alle wichtigen Theologen der letzten 200 Jahre kommen mit Ausschnitten ihrer wichtigsten Werke in Härles Arbeitsbuch vor. Berücksichtigt sind auch die 'Barmer Theologische Erklärung' aus dem Jahr 1934 und Leuenberger 'Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa' von 1973.
Zweihundert Jahre Geschichte der evangelischen Theologie auf 47 Seiten komprimiert darzustellen, zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche. Damit ist der Verfasser leicht dem Vorwurf ausgesetzt, all zu sehr zu vereinfachen. (Wer heute in den theologischen Wissenschaften reüssieren will, stürzt sich daher auf Spezialgebiete, eine für die Lehre verhängnisvolle Entwicklung.) Diese Kritik trifft Härle nicht. Schon seine Einleitung regt ausdrücklich dazu an, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen. Die abgedruckten Originaltexte können schon wegen des begrenzten Umfangs die theologischen Positionen nur andeutungsweise repräsentieren. Beispielsweise 35 Seiten aus dem mehrere zigtausend Seiten umfassenden Gesamtwerk von Karl Barth machen aber Appetit, sich mit dem monumentalen Werk des bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts weiter zu beschäftigen. Härles 'Grundtexte' geben einen hervorragenden Einstieg in die Materie. Wer weitere Hilfen für einen Zugang sucht, sei auf Härles 'Dogmatik', Berlin 1995, verwiesen.
Die 43 Originaltexte sind chronologisch geordnet. Sie beginnen mit Schleiermachers 'Über die Religion' (1799). Aus der Schrift 'Kurze Darstellung des theologischen Studiums' (1830) 'sind 31 Paragraphen (samt Erläuterungen) abgedruckt, die in der zweiten Auflage dieser Schrift die Einleitung bilden' (S. XIV). Der Leser lernt dadurch den Aufbau des Buches kennen und wird angeregt, den gesamten Text zu lesen.
Den Abschluss der Originaltexte bildet ein Aufsatz von Wolfgang Huber: 'Gute Theologie' (2004).
Härle zitiert zwei zentrale Sätze: 'Gute Theologie verbindet das bleibend Wichtige mit dem jetzt Dringlichen ' Sie dient dem Verstehen des christlichen Glaubens aus seinen Quellen und historischen Gestalten in Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbewusstsein der eigenen Gegenwart.' (Zit. nach Härle S. LIX)
Der frühere Theologieprofessor und jetzige Berliner Bischof und Vorsitzende des Rates der EKD Huber formuliert Thesen, die sich auch Härle mit seinem Arbeitsbuch 'Grundtexte der neueren evangelischen Theologie' zueigen macht.
Mit dem Kompendium hat Härle einen wichtigen Beitrag für die Ausbildung von Theologen geleistet. An Details, über die man in der Tat streiten könnte, herumzumäkeln, wäre vollkommen unangebracht.
Auch der Preis von unter 30 Euro trägt dazu bei, dass sich viele Studierende die Anschaffung der 'Grundtexte' leisten können.