Die Ikonographie der Nation
Nationalstereotype in der englischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts

'Es gibt keine unschuldigen Bilder' (S. 1) ' über den Wahrheitsgehalt dieses Ausspruchs Bringéus', Eingangszitat der angezeigten Studie, dürfte so ziemlich jeder Leser nach der Lektüre 'im Bilde sein': Die Verfasserin führt in ihrer Dissertation überzeugend (und wahrhaft bildlich) vor Augen, daß die visuellen Repräsentationen nationaler Stereotype in der englischen Bildpublizistik des 18. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion einer englischen nationalen Identität einnahmen. Forschungsarbeiten zur Nationenbildung im Allgemeinen und der Ausformung eines englischen Nationalbewußtseins im Besonderen erfahren hier eine wichtige Erweiterung um die bildliche Dimension dieser Prozesse: Mit der ikonographischen Interpretation eines beeindruckend umfangreichen Repertoires englischer Karikaturen, Flugblätter, Kinderdrucke und Illustrationen in Geographie- und Geschichtsbüchern rekonstruiert die Autorin die Herkunft und Fixierung jener (mentalen) Bilder, die England im 18. Jahrhundert von sich selbst und seinen europäischen Nachbarn hatte.
Zu Beginn der gleichermaßen äußerst lesens- wie betrachtenswerten Studie beleuchtet die Verfasserin zunächst den Rezipientenkreis des untersuchten Quellenmaterials und legt überzeugend dar, daß Druckgraphiken sowohl im privaten Wohnhaus als auch an verschiedenen öffentlichen Orten wie z.B. den Kaffee- und Wirtshäusern oder Schulen für einen Großteil der englischen Bevölkerung eine bedeutende Rolle spielten und breit rezipiert wurden. Kernstück der Studie ist jedoch zweifellos die volkskundliche Interpretation der graphischen Repräsentationen englischer Fremdbilder von den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, welche die Autorin unter konsequentem Bezug auf das englische Eigenbild ausführlich analysiert und interpretiert. Besondere Plausibilität gewinnen die ikonographischen Ausdeutungen durch die kurzen Einführungen in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der oben genannten Länder zu England, die den Analysekapiteln vorangestellt sind. Meyers Studie beeindruckt dabei nicht nur mit der imposanten Bandbreite teils noch weitgehend unbekannten Bildmaterials, sie verleiht ihren Ausführungen zusätzliche Aussagekraft durch den Einbezug von Zeitungsartikeln, Pamphleten sowie ausgewählten literarischen Werken, die ebenfalls auf ihre Darstellung nationaler Stereotype befragt werden.
Leicht verwunderlich erscheint es, daß Meyer das brisante Funktionspotential eines effeminierten Franzosen, militaristischen Deutschen oder korpulent-unförmigen Niederländers ' um nur eine kleine Auswahl der aufschlußreichen und bisweilen äußerst amüsanten Darstellungen zu geben ' in einem gesonderten Kapitel den Interpretationen nachgestellt thematisiert und sie nicht bereits während der Ausdeutung der Druckgraphiken zur Sprache bringt. Ein wenig geschmälert werden Sehvergnügen und Erkenntnisvermögen zudem durch die schlechte Qualität bzw. das kleine Format einiger abgebildeter Drucke, so daß die Neugier des Lesers auf bedeutungsvolle Details leider des öfteren unbefriedigt bleiben muß.
An Format mangelt es der Studie selbst freilich nicht und trotz dieser im Verhältnis zu ihren Vorzügen minimalen Kritikpunkte verdient sie die größte Aufmerksamkeit von Volkskundlern, (Kunst-) Historikern, Anglisten und Kulturwissenschaftlern. Doch nicht nur diesen sei dieses Werk wärmstens empfohlen. Wer wissen will, wie unanständig es anmutet, wenn in englischen Karikaturen deutsche Paare das Tanzbein beim Walzer als 'riotous and indecent German dance' (178f.) schwingen und wie es aussieht, wenn ein englischer Karikaturist in 'Germans eating Sour-Kraut' (172f.) kulinarischen Habitus mit preußischem Expansionsstreben verbindet, wird seine Freude an dieser eindrucksvollen und unterhaltsamen Studie haben.