An Veröffentlichungen zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in Osteuropa herrscht kein Mangel, die Tatbeteiligung der deutschen Wehrmacht ist dabei spätestens seit Mitte der 1990er Jahre eine allseits anerkannte Tatsache. Dagegen scheiden sich die Geister, wenn es um die Beantwortung der Frage geht: Was hat deutsche Soldaten damals dazu verleitet, Verbrechen zu begehen oder zu decken und trotz der absehbaren Niederlage bis zum bitteren Ende durchzuhalten? Antisemitische und antislawische Vorurteile, kriegsbedingte Brutalisierung und Anpassung, der Glaube an Wunderwaffen und den Endsieg wurden bisher üblicherweise als Erklärungsansätze herangezogen.
Mit seiner Habilitationsschrift beleuchtet Thomas Kühne diese Frage aus einem anderen Blickwinkel, indem er sich dem Begriff der Kameradschaft aus historischer Perspektive nähert. Als nachträglich beschworene Identifikationsfigur wurde sie von allen politischen Lagern der Weimarer Republik instrumentalisiert. Im Dritten Reich bildete sie dann die Klammer, die die Volks- und Wehrgemeinschaft auch im Angesicht furchtbarer Verbrechen zusammenhielt. Der genozidale und Totale Krieg, so lautet Kühnes Kernthese, wurde von deutschen Soldaten willig geführt, 'weil beides eine ungeheure Verdichtung des sozialen Er-Lebens', das sich in der Kameradschaft manifestierte, gewährleistete (S. 21). Trotz, oder vielmehr: Aufgrund dieser Funktion geriet der Begriff der Kameradschaft im Nachkriegsdeutschland in Verruf oder zumindest außer Mode.
Kühnes Studie geht neue Wege, indem sie Ansätze der Alltags-, Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte auf das Feld der Krieg- und Gewaltforschung anwendet. Sie stellt die verschiedenen Ausformungen der innerhalb der Wehrmacht gepflegten Kameradschaft zwischen Homoerotik und Machismo vor und zeichnet nach, wie die Identifikation mit den eigenen Leuten zugleich den gegnerischen Kombattanten und der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten den Kameradenstatus raubte. Die nach innen gerichtete harmonisierende Kameradschaft, so mag man folgern, ist somit die spiegelbildliche Entsprechung des nach außen gerichteten aggressiven Feindbildes. Eine Verbindung von innerer Disposition und äußerem Handeln stellt Kühne allerdings nur in Ansätzen her. Die jegliches Maß sprengenden Übergriffe der Truppe, die den nationalsozialistischen Krieg zum beispiellosen Jahrhundertverbrechen machten, erscheinen dadurch bisweilen merkwürdig unterbelichtet.
Das besondere Verdienst der äußerst innovativen Untersuchung, deren Lesbarkeit leider bisweilen durch ein allzu nachlässiges Lektorat beeinträchtigt wird, besteht darin, daß sie das Augenmerk auf einen besonders wichtigen Aspekt der Mentalität deutscher Soldaten richtet, dem bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Der Begriff der Kameradschaft wird umfassend und brillant in sämtlichen denkbaren Facetten durchleuchtet, und Kühnes Ausführungen ist in dieser Hinsicht nichts hinzuzufügen. Gleichwohl steht eine Darstellung des nationalsozialistischen Krieges, die den Bogen zwischen Mentalitäts- und Ereignisgeschichte schlägt, nach wie vor aus. Sie käme der Quadratur des Kreises gleich.