Geschichten von Liebe, Leben und Tod
Zur Funktionalisierung der Intertextualität in Antonia S. Byatts 'Possession. A Romance'

Mit 'Possession. A Romance' gelang der englischen Autorin Antonia S. Byatt 1990 das Kunststück, einen internationalen Bestseller vorzulegen, der als anspruchsvoller postmoderner Roman nicht nur Einzug in (zumindest akademische) Lehrpläne gehalten hat, sondern dessen Verfilmung 2002 auch in deutsche Kinos kam und der durch die Auszeichnung mit dem renommierten 'Booker Prize' (1990) und dem Erscheinen in der Reihe der 'Modern Library Editions/The Modern Library of the World’s Best Books' bereits eine Kanonisierung erfahren hat. Umso erstaunlicher ist es, daß Byatts Roman 'bisher noch nie Gegenstand einer Einzeldarstellung' (S. 4) geworden ist. In diese Lücke stößt nun die Dissertation von Diana Lelle-Roll.
Im Zentrum der Studie von Lelle-Roll steht eine Figurenanalyse der Protagonistinnen des Romans, der fiktiven viktorianischen Schriftstellerin Christabel LaMotte und der zeitgenössischen Literaturwissenschaftlerin Maud Bailey, die, so eine Hauptthese der Arbeit, in der Forschungsliteratur bisher zu wenig beachtet wurden. Die Figurenanalyse erfolgt anhand des Aufzeigens der vielfältigen intertextuellen Verweise zu den Frauenfiguren, die sich überhaupt erst als durch ein Palimpsest intertextueller Bezüge konstituiert erweisen. Es wird dargelegt, daß intertextuelle Referenzen vor allem zu Frauengestalten wie Tennysons 'Lady of Shalott' und 'Maud', zum Melusinenmythos, zu Coleridges 'The Ancient Mariner' und 'Christabel' wie auch zu den Märchenfiguren Rapunzel und Schneewittchen dazu dienen, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den beiden Protagonistinnen herzustellen, um LaMotte schließlich buchstäblich in Maud Bailey, ihrer auch genealogischen Nachfahrin, wiederaufleben zu lassen. Maud Bailey erweist sich, so ein Fazit der Studie, als Erfüllungsfigur von Christabel LaMotte im Sinne des Auerbachschen Figura-Konzepts, das 'zwei Personen oder Ereignisse aufeinander [...] bezieh[t], die sich wiederholen und erfüllen' (S. 175).
Mit Hilfe psychoanalytischer und feministischer Konzepte zeigt die Studie, daß die intertextuellen Verweise zu Maud Bailey und Christabel LaMotte die Erinnerungsfunktion von Literatur unterstreichen, indem sie nicht nur an vergangene Texte erinnern und somit zu einem kollektiven Gedächtnis beitragen, sondern sogar darauf verweisen, daß 'tote Menschen und ihre Werke wieder auferstehen können' (S. 13). Damit knüpft die Verfasserin an die aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung an. In Analogie zu den Protagonisten von 'Possession', die die Gräber ihrer literarischen Vorfahren ausheben, um bisher verborgene Texte zu Tage zu fördern, sucht sie durch ihre 'Figurenanalyse, als tiefenhermeneutisches Projekt verstanden, [...] in einer archäologischen Textarbeit all jene eingeschriebenen fremden Texte auszugraben und sichtbar zu machen, welche die Funktionen der Vorgängerinnen beziehungsweise Nachfolgerinnen herausstellt [sic!]' (S. 173). Genau in diesem Ansatz ist jedoch das Gefahrenpotential der Analyse begründet, in der sich teilweise ein positivistisches bzw. teleologisches Literaturverständnis Bahn bricht. Dennoch unterstreicht die Untersuchung überzeugend die Bedeutung des literarischen 'Grabens', auch wenn der Verfasserin dabei leider einige handwerkliche Fehler unterlaufen, wofür stellvertretend das fehlerhafte Zitat aus 'Possession' auf Seite 162 angeführt sei. Scheint das Zitat zunächst die an dieser Stelle diskutierte These der Präfiguration von Maud Bailey durch Christabel LaMotte zu widerlegen, würde die Textstelle im Original (in dem das 'not' nicht vorkommt) durchaus die Argumentation stützen. Einer besseren Lesbarkeit wäre nicht zuletzt  auch eine klarere Struktur und deutlichere Einhaltung der Argumentationslinie zuträglich gewesen, die Figurenanalyse wirkt teilweise mäandernd und nacherzählend.
Zwar ist bedauerlich, daß insbesondere bei der Untersuchung der Namensgebung bzw. bei der Analyse intertextueller Verweise zum Melusinenmythos bzw. zu Wasserfrauen auf eine Einarbeitung von Friedrich de La Motte (!) Fouqués Kunstmärchen 'Undine' verzichtet wurde, doch kann die Analyse insgesamt detailliert intertextuelle Bezüge zu den Frauenfiguren in 'Possession' aufzeigen und damit die Komplexität der weiblichen Protagonisten von 'Possession' nachweisen.