Südhessisches Flurnamenbuch

Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert werden die historischen und rezenten Flurnamen des Bundeslands Hessen am Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur der Universität Gießen im Rahmen des Projekts 'Hessisches Flurnamenarchiv Gießen' gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet. Nach dem 1987 erschienenen Hessischen Flurnamenatlas legte die Forschergruppe um Hans Ramge 2002 ein 'Südhessisches Flurnamenbuch' (SHF) vor, das die Aufarbeitung der Mikrotoponymie Südhessens, worunter im Wesentlichen der südlich des Mains gelegene Landesteil verstanden wird, zum Ziel hat. Das aus sieben Stadt- und Landkreisen gebildete, knapp 3000 km2 große Bearbeitungsgebiet umfaßt 369 der 2818 hessischen Gemarkungen und liegt weitgehend im rheinfränkischen Dialektraum.
Die Rohdaten für das über 1000 Seiten dicke Werk stammen aus verschiedenen Explorationskampagnen, aus kartographischen Hilfsmitteln und aus der umfassenden Sichtung einschlägiger Quellen. Das SHF präsentiert diese Belegmassen in übersichtlicher und verständlicher Weise, nachdem sie zuvor durch vernünftige Reduktionsstrategien und den Einsatz eines effektiven Datenbanksystems beherrschbar gemacht wurden. Unter einem Sammellemma (z. B. 'Bleiche') finden sich die einschlägigen Flurnamen alphabetisch (nach Gemarkungen) gelistet (z. B. 'Bleiche', 'Auf den Bleichwiesen' etc.). Wo das Lemma als Kompositionshinterglied erscheint, ist auf die entsprechenden Namen verwiesen (z. B. 'Tuchbleiche'). Die rezente Namensammlung wird nach Möglichkeit durch die Angabe von historischen Quellenbelegen ergänzt und mit mündlichen Formen angereichert, wo diese sich als darstellungsrelevant erweisen. Dieser Belegfundus wirft (über den rein onomastischen Nutzen der Darstellung einer regionalen Mikrotoponymie hinaus) beträchtlichen Gewinn für allgemeine wortgeschichtliche Fragen ab. Zum Beispiel führt das SHF S. 316f. unter einem Lemma 'Egert' einige Namen an, die offenbar auf der Brachlandbezeichnung mhd. 'egerde' beruhen. In diesem Zusammenhang bemüht das SHF eine ahd. Form 'egerda', die von dem hierfür zitierten Leipziger 'Althochdeutschen Wörterbuch' allerdings als Verschreibung für 'egida' 'Egge' gedeutet wird (Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, III, Berlin 1985, Sp. 79). Der fragliche 'egerda'-Beleg glossiert in Hildegards v. Bingen 'lingua ignota' (entstanden um 1150, Hss. 1180er und 1220er Jahre) ein geheimsprachliches Lemma 'Vmbleziz', gibt sich aber durch den Kontext ('ager', 'terra', 'egerda', 'bracha') eindeutig als Flurbezeichnung und somit als ahd. Entsprechung von 'egerde' zu erkennen. Da das Wort Hildegards hauptsächlicher Vorlage, dem Summarium Heinrici, noch fehlt, kann man darin eventuell einen eigenständigen Zusatz der Rupertsberger Mystikerin sehen (So etwa R. Hildebrand: Zum Sachwortschatz in der 'Lingua ignota' der Hildegard von Bingen, in: Morphologie und Syntax deutscher Dialekte und Historische Dialektologie des Deutschen. Beiträge zum 1. Kongreß der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen, Marburg/Lahn, 5.-8. März 2003, hg. v. F. Patocka / P. Wiesinger, Wien 2004, S. 327, 337). Dem stand bisher das Urteil der Wörterbücher entgegen, die mhd. 'egerde' als rein obd. Wort einstufen (vgl. etwa Deutsches Wörterbuch, hg. v. J. und W. Grimm, III, Leipzig 1862, Sp. 35 und Neubearbeitung VII, Leipzig / Stuttgart 1984'1993, Sp. 102). Indem das SHF die Bezeichnung nun auch für den südhessischen Raum sichert und für ca. 1300 (Kop. 14. Jh.) einen alten Flurnamen 'of den Egirdin' westlich von Rüsselsheim nachweist, gewinnt die Annahme, Hildegard habe das Wort aus ihrer rheinfränkischen Mundart gekannt, an Wahrscheinlichkeit.
Wegen des großräumigen Zugriffs muß die Behandlung der einzelnen Namen zwangsläufig 'minimalistisch' (S. 32) erfolgen. Es ist den Bearbeitern hoch anzurechnen, daß sie die daraus resultierende Anfechtbarkeit mancher Lemmatisierungs- oder Deutungsentscheidung nicht scheuen. Immerhin schafft die extensive Erschließung der hessischen Mikrotoponymie überhaupt erst die Voraussetzung dafür, daß Detailprobleme erkannt und in der Folge intensiv behandelt werden können.
Beispielsweise verzeichnet der Musterartikel 'Dohn' (S. 17) für die Gemarkung Biblis eine Flur, welche a. 1595 als 'danlach', a. 1668 als 'Dounlach' bezeugt ist. Zusammen mit ähnlichen Namen wird das Bestimmungswort etymologisch mit ahd. 'donên' 'hingestreckt sein' verbunden. Damit ist eine Wortsippe tangiert (z. B. ahd. 'dona' 'Ranke, Schlinge', mhd. 'don' 'gespannt', nhd. 'Dohne' 'Zimmerdecke'), die unzweifelhaft Spuren in der Mikrotoponymie hinterlassen hat und auf einem Element germ. *þun- (zur Verbalwurzel idg. *ten- 'sich spannen') beruht (vgl. Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, II: bí'ezzo, hg. v. A. L. Lloyd, R. Lühr und O. Springer unter Mitwirkung v. K. Purdy, Göttingen / Zürich 1998, s. vv. 'dona', 'donên'). Dies kann aber schwerlich die Grundlage von 'Dounlach' gewesen sein, da der Kurzvokal im Ortsdialekt nicht diphthongiert worden wäre. Falls der Beleg als mundartliche Direktanzeige eines steigenden Diphthongs verläßlich ist, müßte aufgrund des Nebeneinanders von 'a' und 'ou'-Graphie eher eine Ausgangsform mhd. *dôn angenommen werden (vgl. O. Reichmann / K.-P. Wegera: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Sammlung kurzer Grammatiken Germanischer Dialekte A.12, Tübingen 1993, §§ L18, L28.). Die Anknüpfung an 'dôn' 'tonus' verbietet sich aus semantischen Gründen, eine exakte Entsprechung stellt dagegen das i-stämmige Fem. got. 'dauns' 'Geruch' (zu idg. *dheuH- 'stieben'?) dar, vgl. aisl. 'daunn' Mask. 'Gestank' und 'daunsna' 'schnuppern, schnüffeln', dän. dial. 'døn' 'Geruch, Gestank', ne. dial. 'dîn' 'Dunst' < *dêan (vgl. etwa N. Å. Nielsen: Dans Etymologisk Ordbog. Ordens Historie, København 41989, S. 101 und A. Casaretto: Nominale Wortbildung der gotischen Sprache. Die Derivation der Substantive, Heidelberg 2004, S. 335). Da die englische Form das Wort für das Westgerm. sichert (Me. 'dowwnenn' 'riechen' ist dagegen Lehnwort, vgl. E. Björkman: Scandinavian Loan-words in Middle English I, Studien zur englischen Philologie VII, Halle/S. 1900, S. 69), könnte 'Dounlach' (als Bezeichnung für ein übel riechendes Gewässer?) ein Indiz für die Existenz eines im Deutschen appellativisch nicht bezeugten altrheinfränk. *dôn < *dau-ni- liefern. Einer rezenten Mundartform würde hier Beweiswert zukommen.
In Anlehnung an die wenig überzeugende Darstellung Adolf Bachs faßt das SHF S. 560 eine bei Ellenbach gelegene und a. 1771 schriftlich überlieferte Flur 'Im Kay' als 'Variante' zu mhd. 'hau' (recte: 'hou') 'Holzhieb' auf, welches in bair. Orts- und Flurnamen bezeugt sei. Da 'ai, ei' bei einem solchen Namen im Ostobd. allenfalls als spätmittelalterliche Entrundungsgraphien denkbar wären, erzwingen die zahlreichen früheren Namenbelege ' z. B. 1126/30 (Kop. 1203/04) 'Geheige', 1138/39 [Fälschung zu 1067 (Kopie Mitte 13.Jh.)] 'Gehei', 1138/46 (Kopie 1183/93) 'Gey', 1180/95 'de Geheie I modium', nach 1263/64 'daz Gehai' (M. Walko: Die Traditionen des Augustiner-Chorherrenstifts Baumburg an der Alz, München 2004, Nr. 31; BayHStA, Hochstift Passau Lit. 3, fol.123r; H.-P. Mai: Die Traditionen, die Urkunden und das älteste Urbarfragment des Stiftes Rohr 1133'1332, München 1966, Nr. 12; E. Noichl: Codex Falkensteinensis. Die Rechtsaufzeichnungen der Grafen von Falkenstein, München 1978, Nr. 108; BayHStA Oberalteich Lit. 1, fol.18r.) ' jedoch eine andere Erklärung. Zugrunde liegt das st. Neutr. (ja) mhd. 'gehei', welches aus lautlichen Gründen nicht (wie oft behauptet) zu 'gehege' 'Einfriedung' gestellt und mit dem langob. 'gahagium' 'silva regis' des Edictus Rothari verglichen werden kann, sondern mit der bereits in der Lex Baiuuariorum überlieferten ahd. Forstbezeichnung 'gahei' (Hs. 9. Jh.: 'Si vero de minutis silvis, de luco vel quacumque kaheio vegitum reciderit') verbunden werden muß (vgl. E. Karg-Gasterstädt: Aus der Werkstatt des althochdeutschen Wörterbuchs. 6. Der althochdeutsche Sprachschatz und die Leges Barbarorum, in: PBB 61 (1937), S. 267 Anm. 1 und H. Tiefenbach: Studien zu Wörtern volkssprachiger Herkunft in karolingischen Königsurkunden. Ein Beitrag zum Wortschatz der Diplome Lothars I. und Lothars II., Münstersche Mittelalter-Schriften 15, München 1973, S. 61; vgl. zuletzt auch Ders.: 'Quod Paiuuarii dicunt' ' Das altbairische Wortmaterial der Lex Baiuuariorum, in: Die bairische Sprache. Studien zu ihrer Geographie, Grammatik, Lexik und Pragmatik. Festschrift Ludwig Zehetner, hg. v. A. Greule u. a., Regensburger Dialektforum 5, Regensburg 2004, S. 270). Etymologisch dürfte der ja-Stamm eher als Verbalabstraktum zu ahd. 'gi-heien' 'beschützen' ('gihéienne' bei Notker) denn als Kollektivum aufzufassen sein.
Unter einem Lemma 'Lache1' verzeichnet das SHF S. 618f. eine Vielzahl von Fluren, deren Benennung aus ihrer Lage an stehenden Gewässern resultiert. Als Erklärung für die betreffenden Namen findet sich ein Verweis auf: ahd. 'lah' st.M., 'lahha' sw.F. 'Lache, Sumpf, Wassergraben', mhd. 'lâ' st.F., 'lache' sw.st.F. 'Lache, Pfütze, Sumpf, Sumpfwiese', nhd. 'Lache'. Dieser kumulative Wörterbuchnachweis suggeriert fälschlich, es handle sich bei den zitierten Formen um morphologische Varianten einer Basis 'lah-'. Während die Masse der Namen auf ahd. 'lahha' 'palus' bzw. '-laccha' (z. B. 'Am Lackenberg') und somit auf vordt. /k(k)/ verweist, geht mhd. 'lâ' < ahd. *laha (nur in Namen) auf germ. *lahwô- zurück; abweichende Stammbildung und Grammatischen Wechsel zeigt *lagu- (ae. 'lagu' 'See, Meer', as. 'lagustrôm' 'Meerflut') (zur Etymologie St. Schaffner: Das Vernersche Gesetz und der innerparadigmatische grammatische Wechsel des urgermanischen im Nominalbereich, Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 103, Innsbruck 2001, S. 510'512). Da *laha und 'lahha' aus ahd. Sicht ein Minimalpaar bilden, hätte man sie bei der Lemmatisierung auch getrennt behandeln sollen.
Die auf knapp 60 Seiten angewachsene Einleitung dokumentiert die umfassenden konzeptionellen und namenlexikographischen Vorüberlegungen, auf denen das Namenbuch beruht. Auch wenn man bei der einen oder anderen Entscheidung anderer Auffassung sein kann, macht gerade das erkennbare Bemühen, dem Benutzer die von Materialstruktur und Arbeitsökonomie diktierten Grenzen der Bearbeitung offen aufzuzeigen, das SHF für einen breiten Benutzerkreis zu einem zuverlässigen Hilfsmittel. Die zurückhaltende Selbstcharakterisierung als 'Forschungsinstrument [...], das regelgeleitet den Namenbestand einer Region in vermindertem Umfang, aber im Wesentlichen vollständig darstellt' (S. 32), darf man als Untertreibung abtun. Das SHF, dem hoffentlich bald auch mittel- und nordhessische Bände folgen werden, ist mehr als ein schlichtes Inventar oder Register. Es setzt Maßstäbe in der deutschen Mikrotoponomastik und wird die weitere Erforschung der westmitteldeutschen Namenlandschaften maßgebend vorantreiben.