Die Perspektivenstruktur narrativer Texte
Zu ihrer Theorie und Geschichte im englischen Roman zwischen Viktorianismus und Moderne

Die Entwicklung von Beschreibungsmodellen für die Perspektivenstruktur narrativer Texte unter Berücksichtigung ihrer historischen Erscheinungsformen und Funktionalisierungen wurde in jüngster Zeit insbesondere durch die Beiträge von Vera und Ansgar Nünning profiliert. Im Anschluß an diese Studien legt Carola Surkamp eine Studie zum englischen Roman zwischen 1870 und 1930 vor, die sich eben diese Verbindung einer Ausarbeitung quantitativer und qualitativer Analysekategorien innerhalb eines größeren epochenspezifischen Textkorpus zur Aufgabe macht.
In einem ersten Teil entwickelt die Autorin durch Verknüpfung von erzähltheoretischen Konzepten mit dem semantischen Konzept der 'possible-worlds-theory' und dem pragmatischen Ansatz der kognitiven Narratologie ein relationales Modell, das die Perspektivenstruktur eines narrativen Textes als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Figuren-, Erzähler- und (fiktiven) Leserperspektiven definiert.
Eine wesentliche Eigenschaft der theoretischen Neukonzeptualisierung ist der Verzicht auf die strukturalistische, binäre Oppositionsbildung von geschlossener vs. offener Form zugunsten einer dynamischen Auffassung, die auf einem Pol der Skala das additive multiperspektivische Erzählen ansiedelt, bei dem 'sich die verschiedenen Weltversionen in ein Gesamtbild fügen' und auf dem anderen Pol das kontradiktorische, multiperspektivische Erzählen, das 'durch eine weitreichende bzw. völlige Nicht-Übereinstimmung der Perspektiven' (S. 118) bestimmt ist: Multiperspektivisches Erzählen wird demnach nicht per se als Ausdruck für die Relativität der Standpunkte verstanden, sondern kann durchaus auch der Darstellung eines geschlossenen Weltbildes dienen.
Der zweite Teil der Arbeit geht der spezifisch perspektivischen Inszenierung epistemologischer Fragestellungen, der Gender-Problematik und kolonialer Diskurse nach. Die Textauswahl wurde für jeden der drei Themenkomplexe so getroffen, daß sich eine historisch lineare Entwicklung von geschlossenen zu sich öffnenden Perspektivenstrukturen ergibt: So werden die chronologisch verhandelten Romane G. Eliots, O. Wildes, J. Conrads und A. Huxleys als Ausdruck für die anwachsende Fragmentierung von Wirklichkeitserfahrung, Romane von S. Grand, V. Woolf und V. Sackville-West als zunehmende Subversion hergebrachter Weiblichkeitsvorstellungen und die Kolonialromane von G. A. Henty, R. Kipling und E. M. Forster als sich verstärkende Dekonstruktion imperialen Denkens interpretiert. Jeweils findet die Erfahrung der Rückgeworfenheit auf die Partialität individueller Wirklichkeitsentwürfe ihren Ausdruck in einer Darstellungsweise, die den Umfang und die Streubreite des Perspektivenangebots steigert, das seinerseits weniger hierarchisiert bzw. homogenisiert wird. Zunehmend werden ' um einige der von Surkamp entwickelten Kriterien für die offene Perspektivenstruktur zu nennen ' die Erzählerperspektive in ihrer Verbindlichkeit begrenzt, indem die Erzählinstanz etwa nicht mehr kommentierend auftritt oder in ihrer Zuverlässigkeit in Zweifel gezogen wird, die Figurenperspektiven wechselseitig relativiert und die Perspektive des fiktiven Lesers zu einer sinnproduzierenden aufgewertet, indem ihr Synthetisierungsleistungen abverlangt werden, die der Text selbst nicht mehr leistet.
Der Ansatz der Arbeit, eine Überwindung des textimmanenten und ahistorischen Konzepts der Perspektivenstruktur zugunsten der Einbettung 'in einen größeren gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang' (S. 25) zu leisten, ist vielversprechend, aber nur schwer in seiner ganzen Tragweite einlösbar. So vermißt der Leser eine eingehendere Behandlung der Zusammenhänge, in denen die interpretierten Texte mit den zeitgleich geführten Diskursen stehen, die im erkenntnistheoretischen, naturwissenschaftlichen oder psychologischen Bereich die Möglichkeit objektiver Erkenntnis hinterfragten. Symptomatisch für dieses nicht immer gelungene Zusammenführen unterschiedlicher Deutungsebenen ist der wiederholte Rekurs auf die um 1900 geführte Diskussion um die wirklichkeitskonstituierende Funktion des Wissenschaftlers durch Einstein, Bohr und Heisenberg, die den Ausgangspunkt für die Interpretationsthese des epistemologischen Skeptizismus gibt, aber darüber hinaus kaum für die Textinterpretationen fruchtbar gemacht wird, so daß die Relevanz der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge im Ungefähren bleibt. Dagegen liegen die Stärken der Arbeit in der gelungenen Integration der verschiedenen Konzepte zur 'Perspektive' und ihrer Weiterentwicklung zu einem präzisen Beschreibungsmodell, das jeder mit Gewinn konsulieren wird, der sich mit der systematischen Erfassung von Perspektivenstrukturen in narrativen Texten auseinandersetzt.