Literaturgeschichte der Shoah

Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses über den Holocaust herrscht Einigkeit darüber, daß der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts einen Einschnitt bedeutet, der fundamental sämtliche Grundlagen der abendländischen Humanität und Rationalität in Frage stellt. Alle Formen, die sich an einer Identitäts- oder Sinnstiftung versuchen, müssen zwangsläufig versagen. Daraus ergibt sich die Frage nach der Bedeutung dieser grundlegenden Zäsur für jegliche literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Michael Hofmann versucht in seiner Studie der 'paradoxen Aufgabe der Literatur' (S. 9), das Unfaßbare in Worte zu kleiden und dafür geeignete Darstellungsmethoden zu finden, nachzuspüren. Er möchte diejenigen tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der bestehenden literarischen Gattungen aufzeigen, die der Holocaust nach sich zog und dabei 'eine Bilanz der Versuche skizzieren, im Medium Literatur von der Shoah Zeugnis abzulegen' (S. 9).
Hofmanns Ansatz beruht prinzipiell auf der Vorstellung, daß die traditionelle Triade der Literatur ' Epik, Lyrik, Drama ' ihre jeweiligen Subgenres zur Verfügung stellt, die von den Schreibenden bei ihren literarischen Bewältigungsversuchen der Radikalität ihrer Erfahrungen entsprechend umgewandelt werden. Das Jahrhundertereignis wird von dem Autor für den nachhaltigen Bruch, der sich nachweislich durch sämtliche überlieferte Gattungen zieht, verantwortlich gemacht, nicht aber als Auslöser für den Auflösungsprozeß gesehen, der die Literatur schon lange zuvor prägte. Die Literatur der Moderne habe sich laut Hofmann in einer generellen Krisensituation befunden, deren destruktive Tendenzen sowie der Wandel tradierter Formen und Gattungen durch den Umgang mit der Katastrophe nur noch verstärkt wurde, so daß ein bruchloses Fortschreiben innerhalb konventioneller Gattungstraditionen im Angesicht des Holocaust undenkbar sei.
Der Titel des Buches 'Literaturgeschichte der Shoah' verspricht viel und läßt ein umfangreiches Werk, wenn nicht sogar den Versuch einer Gesamtdarstellung erwarten, doch hier wird der Leser enttäuscht. Tatsächlich zielt die Konzeption seiner rund 160 Seiten starken Studie darauf ab, in exemplarischer Weise den revisionistischen Charakter dieser Literatur, d. h. die Verkehrung vertrauter literarischer Schemata in ihr Gegenteil, zu verdeutlichen. Sinnvoll eingebettet zwischen die philosophischen Theoreme Theodor W. Adornos sowie Jean-François Loytards und einen gelungenen Ausblick, der die Perspektiven der 90er beleuchtet, sind Interpretationen ausgewählter Texte von längst kanonisierten Autoren der Holocaustliteratur. Anhand dieser Beispiele demonstriert Hofmann die Bruchstellen, die der Holocaust in den Gattungen Essay, Autobiographie, Roman, Drama und Lyrik hinterließ. Dem Autor gelingt es im Falle der Autobiographie besonders eindrucksvoll klar zumachen, wie sich bekannte literarische Modelle gegen sich selbst kehren und das vertraute Welt- und Menschenbild völlig zerstören. Ob Elie Wiesels 'Die Nacht' (1996) oder Primo Levis 'Ist das ein Mensch?' (1992) ' in beiden Fällen wird der für den Bildungsroman typische Entwicklungsprozeß vom Leben zum Tod umgekehrt und statt einer sinnvollen Lebensgeschichte die Degenration des Menschen gezeigt.
Ist der grundlegende Gedankengang Hofmanns richtig und nachvollziehbar, greift er dennoch an entscheidender Stelle zu kurz. Denn unerkannt bleibt in diesem Ansatz offenbar, daß gerade aufgrund der von ihm selbst aufgezählten, hervorstechenden Gemeinsamkeiten aller Literatur über den Holocaust sich die klassischen Gattungsgrenzen der drei Hauptgenres auflösen und auf diese Weise Texte, die den Holocaust als Motiv zentral behandeln, eine eigenständige Gattung bilden. Daß diese Tatsache unberücksichtigt bleibt bzw. scheinbar verworfen wird, bildet den Hauptkritikpunkt, der an dieses Werk heranzutragen ist. Doch auch wenn es nicht den Anspruch einer 'Literaturgeschichte' im herkömmlichen Sinne erfüllt, ist Michael Hofmanns lesenswertes Buch zweifelsfrei eine Bereicherung im Fach.