Geschichtsphilosophie und Kulturkritik

In den letzten Jahren ist ein erstarkendes Interesse an den Fragen der Geschichtsphilosophie zu diagnostizieren: an einer Disziplin also, die bereits seit längerem ' und dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen ' aus den Reihen der im gegenwärtigen philosophischen Diskurs Relevanz beanspruchenden Disziplinen ausgesondert war. Insbesondere die theoretische Implikation eines zunehmenden moralischen und emanzipatorischen Fortschritts der Menschheit und die damit verbundenen Annahmen einer kontinuierlichen und ganzheitlichen Bewegung, die nach einem sinnhaften Plan und ' notfalls auch hinter dem Rücken der individuellen Akteure ' mit Notwendigkeit zum Ziel führe, hat spätestens seit den 1950er Jahren zu einer massiven und lagerübergreifenden Kritik an der Geschichtsphilosophie geführt. Nach den Beweisführungen der analytischen Philosophie, der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus schien geschichtsphilosophisches Denken klassischen Zuschnitts, d.h. in der Nachfolge von Kant, Hegel und Marx, lediglich von philosophiehistorischer Bedeutung zu sein und für eine systematische Analyse gesellschaftlicher Konstellationen und sozialer und politischer Prozesse nicht mehr dienen zu können. Die vermehrt aufkommenden Veröffentlichungen, die nach der Möglichkeit einer ‚Geschichtsphilosophie nach dem Ende der Geschichtsphilosophie' fragen und eine ‚Rehabilitierung' dieser Disziplin einfordern, gehen demgegenüber aber davon aus, daß ein ' von seinen metaphysischen Verzeichnungen und heilsgeschichtlichen Überforderungen befreites ' geschichtsphilosophisches Denken durchaus Fragen aufwerfen und Werkzeuge an die Hand geben könnte, die auch für die gegenwärtige Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen fruchtbar zu machen wären.
Die beiden Herausgeber des Sammelbandes ‚Geschichtsphilosophie und Kulturkritik' haben im Rahmen der Arbeit an einer solchen Renaissance der Geschichtsphilosophie bereits einige Impulse gesetzt. Zu nennen sind hier: Herta Nagl-Docekal: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Frankfurt a.M. 1996; Johannes Rohbeck: Technik ' Kultur ' Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 2000; ebenso auch der Schwerpunkt: Ist eine Rehabilitierung von Geschichtsphilosophie möglich? in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/48 (2000), an dem beide Herausgeber beteiligt sind. Auch viele der fünfzehn meist renommierten, aus Deutschland, Italien, Österreich, Frankreich und den USA stammenden BeiträgerInnen zu ‚Geschichtsphilosophie und Kulturkritik' orientieren sich an der Leitfrage, welche Bedeutung einem geschichtsphilosophischen Denken gegenwärtig noch beizumessen sei. Das Spektrum, daß die Beiträge dabei abdecken, ist sehr weit. Neben Studien zu verschiedenen spezifischen Geschichtsphilosophen (Kant, Schlegel, Benjamin, Troeltsch, Arendt) und zu den historischen Grundlagen des geschichtsphilosophischen Denkens selber, finden sich Beiträge zur Theorie der Moderne, zur Bedeutung der Geschichtsphilosophie für andere philosophische Disziplinen (Ästhetik, Philosophiegeschichte) sowie eine schwerpunktmäßige Auseinandersetzung bezüglich der Relevanz der Geschichtsphilosophie für aktuelle Fragen der praktischen und politischen Philosophie. Darüber hinaus gibt es einige Ansätze zu einer systematischen Grundlegung und Rechtfertigung für die Neufassung einer geschichtsphilosophischen Position (insbesondere die Beiträge von Kittsteiner, Rohbeck, Lutz-Bachmann und Schnädelbach). Der Band spiegelt damit in einer großen systematischen und historischen Bandbreite die aktuellen Diskussionen und Problemkomplexe der Geschichtsphilosophie wieder.
Für den im Titel des Buches genannten Aspekt der Kulturkritik kann man dies hingegen nicht in gleicher Weise behaupten. Das Verhältnis zwischen Geschichtsphilosophie und Kultur bzw. Kulturtheorie bleibt sowohl im Aufbau des Bandes und in vielen der einzelnen Beiträge als auch in den einleitenden Erläuterungen der Herausgeber eher vage. Dies liegt unter anderem daran,, daß mit dem Begriff der Kulturkritik zwei verschiedene Aspekte ins Spiel gebracht werden sollen: zum einen eine von den cultural studies inspirierte Ausweitung des geschichtsphilosophischen Themenspektrums, daß zu einer 'Berücksichtigung lebensweltlicher Phänomene, [einer] Integration von Sozial- und Wissenschaftsgeschichte in die so genannte Geistesgeschichte, schließlich [zu einer] Überbrückung der ‚zwei Kulturen' von Natur- und Geisteswissenschaften, von Wissen und Ästhetik” (S. 10) führen könnte. Außer in dem Aufsatz von Catherine Colliot-Thélène, die sehr kenntnisreich und detailliert die Geschichte des modernen Paradigmas der ‚historischen Zeit' bis ins Mittelalter zurückverfolgt und dabei auch die unterschiedlichen naturwissenschaftlichen und religiösen Zeitmodelle berücksichtigt, findet ein Blick über den philosophischen Tellerrand jedoch kaum statt. Und auch die Möglichkeiten der gegenseitigen Fruchtbarmachung von Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie werden wenig expliziert. Lediglich der anregende und dichte Aufsatz von Heinz-Dieter Kittsteiner zeigt, was unter diesem Blickwinkel möglich gewesen wäre: Neben einer überzeugenden Differenzierung von vier Stufen der Moderne in der europäischen Neuzeit, die als vier unterschiedliche kulturelle und symbolische (Selbst-)Deutungen begriffen werden, liefert Kittsteiner die dazugehörigen programmatischen theoretischen Grundlegungen zu einer 'von geschichtsphilosophischen Fragen angeleiteten Kulturgeschichte” (S. 92) gleich mit.
Neben dieser kulturtheoretischen Orientierung wird auf den Aspekt einer dezidierten Kulturkritik rekurriert.  Eine Aufgabe aktueller Geschichtsphilosophie ist es danach, sich 'kritisch gegenüber dem faktischen Verlauf der Geschichte [zu] verhalten” (S. 11). Die systematische Herausforderung eines solchen Unterfangens ist die Fundierung eines Vergleichs- und Wertmaßstabs, der die Beurteilung der kulturellen Verhältnisse und des geschichtlichen Standes erlaubt, ohne schlicht die eigenen Werte auf andere Kulturen oder andere Zeiten zu übertragen und sich damit dem Vorwurf einer totalitären Vereinnahmung des Fremden (z.B. in Form des Eurozentrismus) auszusetzen. Eine solche geschichtsphilosophische Perspektive in praktischer bzw. politischer Absicht wird von einigen Beiträgen skizziert (Anderson-Gold, Burgio, Gröbl-Steinbach, Nagl-Docekal). In unterschiedlichen Ausprägungen wird sowohl eine Beschreibung der postfordistischen und globalisierten Welt vorgenommen als auch die Propagierung verbindlicher ethischer Wertmaßstäbe, anhand deren sich die jeweiligen gesellschaftlichen Phänomene kritisieren ließen.  In diesem Zusammenhang ist eine verstärkte Bezugnahme auf die geschichtsphilosophischen Konzepte von Kant zu verzeichnen, die in nicht weniger als vier Aufsätzen als eine Position gesehen werden, an die sich heute anzuschließen lohne (dagegen wird Hegel lediglich in dem sehr erhellenden Aufsatz von Robert Pippin zur Ästhetik als ein Kandidat für eine adäquate Beschreibung historischer Entwicklungen ins Feld geführt): Denn zum einen läßt sich an Kants Idee der Annahme eines kontinuierlichen und zielgerichteten geschichtlichen Verlaufs mit lediglich regulativem Status anknüpfen, um den Fallen einer substantialistischen Geschichtsphilosophie zu entgehen (vgl. hierzu insbesondere Lutz-Bachmann), und zum anderen dient Kant mit der Idee eines aufgeklärten Weltbürgertums und der Notwendigkeit einer gegenseitigen Anerkennung als ein Gewährsmann, an den sich demokratische Grundwerte zurückbinden lassen. Für einige der Beiträge ist diesbezüglich festzustellen, daß die Werte, die zur Beurteilung herangezogen werden, entweder bloß gesetzt oder aus der kantischen Philosophie importiert werden, wodurch die in der Einleitung angemahnte 'Frage nach den normativen Maßstäben der Beurteilung” (S. 11) und deren philosophischer Begründung gerade nicht mehr eigens reflektiert wird.
Der Band hat mit der Zielsetzung, eine aktualisierte Form der Geschichtsphilosophie in Auseinandersetzung mit der Kulturtheorie und der Kulturphilosophie einerseits und den Fragen einer Kritischen Theorie und einer politischen Philosophie andererseits zu verorten und zu legitimieren, ein Programm vorgegeben, dessen Möglichkeiten hier noch nicht in vollem Maße ausgeschöpft werden. Darüber hinaus bietet ‚Geschichtsphilosophie und Kulturkritik' aber in jedem Fall einen reichhaltigen Überblick über aktuelle geschichtsphilosophische Debatten und Themengebiete und verdeutlicht in vielen der größtenteils sehr fundierten und anregenden Beiträge, daß die Disziplin der Geschichtsphilosophie nicht der Vergangenheit angehört, sondern auch in Zukunft Relevanz für sich beanspruchen darf.