Mein Weg durch die Nacht

Was ist davon zu halten, wenn ein renommierter, nicht jüdischer deutscher Autor wie Wolfgang Koeppen aus dem Bericht eines jüdischen Holocaust-Überlebenden einen Roman macht, ohne seine Quelle kenntlich zu machen? Handelt es sich hier um ein Plagiat? Oder ist es nicht ein Fall nachträglicher 'Arisierung', wie es Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und Verfasser einschlägiger Bücher zum Thema, bei einer Buchpräsentation im Berliner Literaturhaus auf den Punkt brachte.
Mit dem im Berliner Metropol Verlag erschienenen Band Mein Weg durch die Nacht von Jakob Littner, dem bereits 1945 niedergeschriebenen Erlebnisbericht eines jüdischen Holocaust-Überlebenden, wird zugleich der Ursprung eines viel gerühmten Textes, Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, enthüllt. Dieser Roman fristete jahrzehntelang unter einem Pseudonym ein bescheidenes Dasein, löste dann aber, nachdem vor zehn Jahren Wolfgang Koeppen (1906-1996) für die Neuauflage im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp die Autorschaft für sich reklamierte, in literarischen Kreisen staunende Verwunderung aus, wie ein nicht betroffener Autor so authentisch und meisterhaft die Erfahrungen des Holocaust in Worte zu kleiden vermochte.
Die vor wenigen Jahren entdeckte und nun im Original gedruckt vorliegende Geschichte des Jakob Littner ist für sich betrachtet schon außerordentlich. Jakob Littner, 1883 in Budapest geborenes Kind eines aus der damaligen Donaumonarchie nach Ungarn übergesiedelten Polen, lebte seit 1912 mit seiner Frau Katharina in München. Zusammen mit ihr hatte er drei Kinder und er unterhielt, gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin und späteren Freundin Christine Hintermeier, ein Briefmarkengeschäft. 1919 war er durch seine väterliche Abstammung polnischer Bürger geworden, was 1938, unter den deutschen Nationalsozialisten, fatale Folgen haben sollte. Diese erließen am 26. Oktober 1938 ein Gesetz, auf dessen Grundlage alle in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit ausgewiesen wurden. Mit der zunächst nicht erfolgreichen Deportation und der Abweisung der Deportierten an der Grenze durch die Polen beginnt Littners Bericht seiner Flucht und Verfolgung. Sein Weg führt ihn ab 1939, immer auf der Flucht vor den herannahenden deutschen Truppen, über Prag, Krakau in Richtung Osten über Lemberg und Tarnopol nach Zaleczyki, wo er, inzwischen in Begleitung der Polin Janina Korngold, Zeuge des Einmarsches sowjetischer Truppen wurde. Schließlich landeten beide in Zbaracz, einem kleinen Städtchen, das heute in der Ukraine liegt, damals aber zunächst unter sowjetischer Besatzung war und dann ab Juli 1941 von den Deutschen okkupiert wurde. Die von den nationalsozialistischen Besatzern betriebenen Massenerschießungen, die Ghettoisierung und die Deportationen in die Arbeitslager Kemanka-Bugskaya und Zborow sowie zu Hunderten in das nahe gelegene Vernichtungslager Belzec bedeuteten die Ermordung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung dieses Städtchens; von den ca. 5000 jüdischen Einwohnern und den während des Kriegs dorthin Geflohenen überlebten 60 Menschen, darunter Jakob Littner, Janina und Richard Korngold.
Der ursprünglich 1948 unter Pseudonym im Münchner Herbert Kluger Verlag veröffentlichte Erlebnisbericht des Juden Jakob Littner, der die Massenerschießungen und Deportationen in Zbaracz, versteckt in einem Kellerloch und dank der materiellen Unterstützung seiner nicht-jüdischen ehemaligen Geschäftspartnerin und Lebensgefährtin Christine Hintermeier überlebte, machte in Deutschland, wie erwähnt, erst von sich reden, als sich 1992, mit der erneuten Veröffentlichung der Aufzeichnungen aus einem Erdloch im jüdischen Verlag bei Suhrkamp der renommierte nicht-jüdische Autor Wolfgang Koeppen als Verfasser zu erkennen gab. Koeppen stilisierte sich darin in einem vorangestellten Vorwort als derjenige, der im Nachkriegswinter 1946/47 die Leidensgeschichte dieses jüdischen Überlebenden aufzuschreiben begann. Dieser sei auf dem Weg in die USA gewesen und habe ihm seinen mündlichen Bericht, einige Notizzettel und die Zusage eines 'Honorars' in Form von monatlichen 'Carepaketen' hinterlassen. Die Geschichte bis zur nunmehr vorliegenden Edition des Originalmanuskriptes, das nur wenig und doch ganz viel mit dem Koeppen'schen Text zu tun hat, ist für sich schon spannend genug. Darüber hinaus liefert sie aber auch brisante Hintergründe für die seit Jahren anhaltende Debatte um den Stellenwert der so genannten Holocaustliteratur und die Frage nach der unantastbaren Authentizität von Holocaustzeugnissen. Der Metropol Verlag war gut beraten, dem 173 Druckseiten umfassenden, von Reinhard Zachau in den USA entdeckten Originalmanuskript einen wissenschaftlichen Anhang beizufügen, in dem die beiden Literaturwissenschaftler Roland Ulrich (Universität Greifswald) und Reinhard Zachau (University of the South in Sewanee, Tennessee) sowie Alfred Estermann (Universität Mainz), der an einer größeren Studie über Koeppen und Littner arbeitet, ihre kriminalistische Arbeit dokumentieren. Informiert werden die Lesenden hier über die Hintergründen bei der 'Suche nach dem Urtext' (Zachau), aber auch über 'Jakob Littners Versuche, seinen Erlebnisbericht zu veröffentlichen' (Estermann), sowie über die 'Metamorphosen des Textes' vom Report Littners zum Roman Koeppens (Ulrich) und schließlich über Gespräche, die die Herausgeber mit Verwandten Littners führten.
Was nicht nur aus der Perspektive des Historikers Wolfgang Benz zunächst einmal ' und zu Recht ' eindeutig als ein Fall von Diebstahl geistigen Eigentums konstatiert werden muß, erweist sich bei näherer Betrachtung aber auch als ein komplexes Geschehen, das über den merkwürdigen Umgang der nicht-jüdischen deutschen Nachkriegsgesellschaft mit ihrem nationalsozialistischen Erbe Aufschluß zu geben vermag. Auseinandersetzung mit der Ermordung des jüdischen Volkes durch die Deutschen fand, über den akademischen Diskurs hinaus, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wenn überhaupt, vorwiegend in der Literatur statt. Die Tendenz nicht-jüdischer deutscher Autoren und Autorinnen, hierbei auf 'Bilder des Jüdischen' zu rekurrieren und dabei (ungewollt) antisemitische Stereotype zu reproduzieren, ist bereits mehrfach in neueren Publikationen, zum Beispiel von Stephan Braese oder Ruth Klüger, herausgearbeitet worden. Dabei besonders auffällig ist der in bester aufklärerischer Absicht unternommene Versuch dieser meist politisch links gerichteten Autoren (zu denen auch Koeppen gezählt werden kann), geradezu zwanghaft das Bild des 'verzeihenden Juden' etablieren zu müssen. Die Textadaption des Zeugnisses von Jakob Littner durch Wolfgang Koeppen ist in literarisch-künstlerischer Hinsicht ein durchaus ernst zu nehmendes ästhetisches Verfahren, für das es viele Vorbilder gibt (man denke an Brechts Dreigroschenoper oder auch an Büchners Lenzadaption). Im Kontext des Holocaust jedoch gerät jeder Versuch der Literarisierung, und gar die der authentischen Zeugnisse der Überlebenden, unter die 'Hermeneutik des Verdachts', das unerträgliche Grauen in eine 'ästhetische Formel' zu verwandeln (so Ruth Klüger in ihrer Autobiographie 'weiter leben'), oder, um mit Adorno zu sprechen, das Verbrechen konsumierbar zu machen.
Ein aufgeregtes Beharren auf der Authentizität der Zeugnisse, die Zuschreibung womöglich einer wie auch immer begründeten 'Heiligkeit der Texte' greift als Reaktion allerdings zu kurz. Denn jeder Text ist immer schon eine Strukturierung von Ereignissen und Erfahrungen, die vorgefertigten literarischen, kulturellen, religiösen Mustern der Deutung folgen. Im Falle des Textes von Littner stellt sich beispielsweise heraus, daß gerade der Vorwurf an Koeppen, er habe das Original sinnstiftend überhöht, indem er der Hauptperson seines Romans ein tiefes Gottvertrauen angedeihen ließ, unzutreffend ist. Jakob Littner selbst nämlich zeigt in seinem eigenen Bericht ein dezidiertes, verzweifelt optimistisches Festhalten an seinem Glauben. Ungeachtet der hier zum Ausdruck kommenden individuellen religiösen Haltung weist diese Literarisierung der eigenen Erfahrung immer auch auf ein religiöses Muster, mit dem die ungeheuerlichen Verbrechen und das eigene Leiden in einen Sinnkontext eingeordnet werden können und damit erst darstellbar sind. So gilt es also, einerseits den Prozeß der Enteignung des jüdischen Autors durch einen deutschen nicht-jüdischen Autor (und einen Verlag) sichtbar zu machen; möglicherweise als einen verdrehten Versuch der Sinnstiftung, der über das buchstäbliche 'Einverleiben' der jüdischen Stimme geschieht und so den nicht-jüdischen, nicht verfolgten Deutschen im Opferdasein aufgehen läßt. Und andererseits wären die Holocaustzeugnisse vor dem Status einer 'geweihten Reliquie' ' und damit vor dem Erstarren in einer Formel ' zu bewahren, indem sie ebenso einer Interpretation und vor allem einer Kontextualisierung unterzogen werden können wie jeder andere Text auch.
Welche Implikationen insbesondere über die im Zusammenhang der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zentralen Frage nach christlichen Deutungsmustern und der damit verbundenen Vereinnahmungen der jüdischen Schicksale sowie der Sinnstiftungen der nationalsozialistischen Verbrechen offen gelegt werden können, muß dann am jeweiligen literarischen Text nachvollzogen werden. Die neue Edition des Littner'schen Originalmanuskriptes liefert ' als längst überfälliges Holocaustzeugnis, das dem viel gerühmten Roman Koeppens endlich an die Seite gestellt wird, und in ihrer vortrefflichen Kontextualisierung ' eine hervorragende Möglichkeit, diesen verdeckten Mechanismen nachzugehen, um am Ende der Stimme der Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen.