Die Geschichte des Schlachters
Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt

13. März 1900, Konitz, Westpreußen. Im seichten Wasser am Ufer des Mönchsees wird der verstümmelte Oberkörper einer männlichen Leiche entdeckt, die das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Wie die Ermittlungen der Behörden ergeben, handelt es sich um den Körper des bereits seit einigen Tagen vermißten Schülers Ernst Winter. Im Laufe der weiteren Nachforschungen werden noch weitere Körperteile Ernst Winters aufgefunden. Trotz aller Bemühungen der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden gelingt es nicht, den Mörder zu ermitteln.
Die entsetzliche Tat sprach sich sogleich in der Kleinstadt (10.000 Einwohner) herum. Es begannen Verdächtigungen und entstanden Gerüchte, die schließlich in Ritualmordbeschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung mündeten. Innerhalb kürzester Zeit heizte sich die Atmosphäre derart auf, daß es zu gewaltsamen antijüdischen Demonstrationen kam, an denen sich hunderte Personen beteiligten und in deren Verlauf auf die Synagoge von Konitz ein Brandanschlag verübt wurde. Erst durch herbeigerufenes Militär konnte dieser schwerste Ausbruch antijüdischer Gewalt im wilhelminischen Deutschland beendet und die äußere Ruhe wieder hergestellt werden.
Diesem historischen Kriminalfall und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen widmen sich zwei Darstellungen, die sich beide durch sehr sorgfältige Quellenarbeit auszeichnen. Zentral hierfür sind die vorhandenen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft sowie die Unterlagen über die antisemitischen Ausschreitungen. Sie erlauben es beiden Autoren, die Geschehnisse minutiös nachzuzeichnen und vor dem Hintergrund ihrer Fragestellung zu analysieren.
Walser Smiths Mikrostudie bezieht zusätzlich Quellen aus polnischen Archiven mit ein, wodurch hier zusätzlich der Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen und Polen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und seine Auswirkungen mit einbezogen werden können. Ebenfalls sehr informativ ist ein vielleicht etwas zu lang geratener Exkurs zur Geschichte der Ritualmordbeschuldigungen.
Dabei beobachtet Walser Smith in Konitz einen Prozeß, der einen 'latenten Antisemitismus manifest werden' läßt und 'private Fehden und Streitigkeiten zwischen Nachbarn in blutige Verfolgungen' transformiert.
Insgesamt wird der Fall Konitz in eine direkte Entwicklungslinie gestellt zu den 'lokalen Gemetzel(n)' vom September 1939, in denen sich die Deutschen in Konitz gegen ihre polnischen und jüdischen Nachbarn wandten, die 'dem systematischen Genozid der mobilen Einsatzgruppen vorausging'. 'Als man ihnen Gelegenheit dazu gab, hatten ganz gewöhnliche Männer, die Deutschen aus Konitz, keine Hemmungen, ihre Nachbarn zu ermorden.' Und aus diesem Milieu, das in der Analyse der Vorfälle von Konitz aufgedeckt wird, bezog der Nationalsozialismus seine ideologische Dynamik, die schließlich auf die Straße nach Auschwitz führte.
In Nonns Darstellung steht nicht so sehr die Betonung einer Kontinuität judenfeindlicher und antisemitischer Haltungen und Aktionen zum Genozid des Zweiten Weltkrieges im Vordergrund. Ihm geht es darum, die Virulenz des Gerüchts und die Untersuchung der jeweiligen individuellen Interessenlagen von Einzelnen und Gruppen bei der Entstehung und Dynamisierung der Gerüchteküche von Konitz.
Diese Vorgehensweise erzwingt eine größere Aufgliederung der Darstellung, wenn einzelnen Motivstrukturen nachgespürt wird. Was dabei an Stringenz der Erzählung verlorengeht, wird durch den Entwurf eines vielschichtigen und facettenreichen Bildes wieder eingeholt. Die Kleinstadt Konitz ihre gesellschaftlichen Gruppen und viele Einzelpersonen, ihre Motive und jeweiligen Interessenlagen werden gleichsam wie unter dem Mikroskop oder auf dem Seziertisch bis in die letzten Verästelungen ausgeleuchtet. Einbezogen wird ebenfalls die Instrumentalisierung des Konitzer Konflikts durch die überregionale Antisemitenpresse und die allgemeine politische Lage, unmittelbar vor einer Landtagswahl sowie auch die Tabuisierung von Sexualität in der öffentlichen Diskussion.
Wenn zwei Autoren sich, wie in diesem Fall, demselben Gegenstand zuwenden, entstehen nicht zwangsläufig Dubletten. Hier ergänzen sich die Darstellungen gegenseitig und werfen auf den Gegenstand Licht aus ganz unterschiedlichen Richtungen, was vielleicht ein noch genaueres Erkennen und Durchdringen der Ereignisse im Gefolge des Mordes von Konitz ermöglicht.