Sexualität im Gedicht

 'Bei den Begriffen ‚Sex' und ‚Sexualität' handelt es sich um intensive, überladene, ‚heiße' Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen'. (S. 8) Dieses Zitat aus Michel Foucaults Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von Sexualität und Wahrheit I macht die überbordende Qualität des zentralen Themas der von Theo Stemmler und Stefan Horlacher herausgegebenen Aufsatzsammlung Sexualität im Gedicht unmittelbar deutlich. Die in dem Band versammelten Aufsätze aus Anglistik, Germanistik, Klassischer Philologie und Romanistik zeigen, daß es dabei aber häufig und immer noch die Sexualität selbst ist, über der ein Schatten liegt.
So behandeln die meisten der Aufsätze mit der Sexualität einen bisher vernachlässigten oder unterschätzten Aspekt im lyrischen Werk eines Autors (Jan Knopf über Bertolt Brecht oder Stefan Horlacher über D.H. Lawrence), oder sie weisen darauf hin, daß in einer bestimmten literarhistorischen Epoche Sexualität in der Lyrik stärker zu berücksichtigen ist (etwa Frank Baasner zur spanischen Aufklärung), als dies bisher geschehen ist. Da das Thema Sexualität und Lyrik bisher hauptsächlich literaturwissenschaftliche Studien zu einzelnen Autoren und Autorinnen beschäftigt, ist auch der Sammelband selbst, als übergreifende Zusammenschau der Thematik, die aus dem 11. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik an der Universität Mannheim hervorgegangen ist, eine Ausnahme, insbesondere in dieser disziplinären Breite.
In allen Aufsätzen wird Wert auf die enge Textarbeit gelegt, die für die Gattung Lyrik zentral ist. In 'Ambivalenz, poetologische Selbstreflexion und inszenierte Sexualität: Die Tagelieder Reimars des Alten, Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach' von Ursula Liebertz-Grün beispielsweise folgen auf sehr gelungene Art und Weise konzise Textinterpretationen auf eine gender-kritische Einführung in 'Sexualität als diskursives Ereignis im Literalisierungsprozeß.' Anhand einzelner Gedichte wird gezeigt, wie am Übergang der mündlichen zur schriftlichen Kultur textuelle Techniken wie 'Rollenspiele, poetologische Signale, […] intertextuelle Verknüpfung durch Anspielungen im Text oder durch die Arbeit des Publikums und der Leserin [oder] Gattungsmischungen' (S. 72f.) es erlauben, der zunehmenden Entfremdung vom Körperlichen entgegenzuwirken und so zeigen, daß mit der Schriftlichkeit die mediale Vermittlung der 'unterschiedlichen Inszenierungen von Sexualität' (S. 72) in den Mittelpunkt rückt.
Auch wenn die genderkritische Perspektive seltener mitgedacht wird als man dies beim Thema vermuten würde (auch Stefan Horlachers Diskussion von D.H. Lawrences Lyrik geht genderkritisch vor), spielt die soziale Dimension eine wichtige Rolle, beispielsweise in Frank Baasners sehr überzeugendem Aufsatz 'Frivole Aufklärung: El arte de las putas von Nicolás Fernàndez Moratín.' Der Artikel ordnet die Darstellung der Prostitution in Moratíns Gedicht in den Kontext der im Gegensatz zur französischen Aufklärung sexualitätsverleugnenden spanischen Aufklärung ein, um den didaktischen Impuls und den Versuch der Disziplinierung der Sexualität deutlich zu machen. Zusammen mit überblicksartigen Arbeiten wie Wilfried Strohs 'Sexualität und Obszönität in römischer ‚Lyrik'' und Nahaufnahmen wie
Reiner Wilds '‚Ich ließ mich Fremder verführen': Goethes ‚Römische Elegien und Venezianische Epigramme'' ergibt sich also ein breites Spektrum von Lesarten und von Herangehensweisen an Sexualität in der Lyrik. Auch wenn ein ausführlicheres Vorwort zur Aufbereitung dieser Komplexität vermutlich günstig gewesen wäre, so tritt in diesem Band die ‚Intensität' und ‚Überladenheit' der Sexualität, von der Foucault spricht, aus verschiedenen Blickwinkeln mit feiner Aufmerksamkeit für die Nuancen von Lyrik sehr eindrücklich zu Tage.