Jormakkas Buch ist eine Geschichte der Anschauungen vom Wesen der abendländischen Architektur. Es beginnt mit der griechischen Klassik und endet mit Beispielen aus der Gegenwart. Es ist nicht eine Geschichte der Architekturtraktate, die erst mit dem Römer Vitruv beginnt und dessen Nachleben Europa bis in die jüngere Vergangenheit bestimmt, auch nicht eine systematische Darstellung der Inhalte dieser Traktate, die Hanno-Walter Kruft bereits in seinem grundlegenden Werk Geschichte der Architekturtheorie (München 1986) vollzogen hatte. Es ist vielmehr der überzeugende Versuch, jeder Epoche die ihr eigenen Ziele oder Charakteristika zuzuschreiben, die jeweils das Wesen der Baukunst bestimmt haben.
Gegenstand der Betrachtung sind wichtige Bauten und Entwürfe der verschiedenen Perioden, die wir zu kennen glauben, die der Verfasser jedoch als Rätsel entfaltet, die zu lösen sind. Zur Bestimmung werden zeitgenössische Texte und Traktate aus Architektur, Philosophie und den Wissenschaften herangezogen, mit denen die Kunstanschauungen herausgearbeitet werden. Die Baugeschichte wird so zur Bewußtseinsgeschichte.
Lapidare Begriffe als Kapitelüberschriften stehen für die betrachteten elf Epochen und geben selbst Rätsel auf. Jormakka entwickelt 'Ordnung' als das Paradigma der griechischen Antike, ' gemeint ist der Vorrang überweltlicher Stringenz vor der materiell sichtbaren '; 'Ritual' als das Thema der Römer impliziert das Interesse an der äußeren Erscheinung des Bauwerkes, das Teil der Öffentlichkeit ist und einen selbstbewußten Bauherrn hat. 'Inversion', Umkehrung römischer Bautypen und Übernahme römischen Zeremoniells charakterisiert die frühchristliche Baukunst, 'Kopie' das Mittelalter, die Nachahmung von Vorbildern bis zur Schaffung des neuen Jerusalem aus Licht in der Gotik, in der die Idee im Rang immer noch über der Materie steht, der Künstler damit aber analog zu Gott wirkt. 'Proportion' steht für die Renaissance, mit ihren Korrespondenzen zum menschlichen Körper und zur harmonikalen Lehre der Musik. Die Entwicklung der Perspektive vermag die visuelle Darstellung der Welt in der Konsistenz ihrer Proportionen zu systematisieren. Kunst ist die religiöse Vision von Vollkommenheit. 'Illusion', optische Täuschung und propagandistische Überredungsfähigkeit stehen für den Barock. Sie basieren auf der Verarbeitung subjektiver Erfahrung unter einheitlichen Prinzipien. 'Vernunft' charakterisiert das 18. Jahrhundert; das beinhaltet systematische Denkweise, die Suche nach dem Ursprung, nach natürlichen Grundlagen und nach den Wirkungsmächtigkeiten der Kunst (das Erhabene) bis Architektur zu einer ökonomischen Angelegenheit erklärt wird (Durand). Im 19. Jahrhundert stehen neue Techniken und neue Materialien zur Verfügung, Weltausstellungen bringen globale Kenntnisse, 'Typ' und Typologie als Klassifikationsmethode und Assoziationstheorie sind die Grundlagen der 'kritischen Selektion' (Eklektizismus). Das 19. Jahrhundert endet mit der Definition des 'Raumes' als Wesen der Architektur. Damit gelingt es, Architektur als eigenständiges und 'reines Kunstwerk' zu etablieren. Die Moderne wird danach ganz skizzenhaft abgehandelt, und erst die Zeit nach 1960 wieder ausführlicher diskutiert, nämlich als Umkehrung des klassischen Architekturbegriffes: die Infragestellung von Raum als Wesen der Architektur bringt ihre Funktionen und deren technische Realisierbarkeit ins Spiel bis eine wohltemperierte Umwelt als Hülle und Träger von Geräten architektonische Substanz völlig aufzehrt. 'Zeichen' dominieren in der Postmoderne der 70er Jahre über den Raum und semiotische Konzepte bis hin zur Dekonstruktion und Computer gestützte Generatoren von Zufall und Kontrolle sind das Ende der Moderne. Ein Ausblick in die jüngste Zeit, die mit 'Neominimalismus' gekennzeichnet wird wirkt nach dem Feuerwerk der vorigen Kapitel ein wenig ratlos.
Für jeden Zeitabschnitt versucht Jormakka die bekannten Interpretationen in Frage zu stellen und durch Perspektivverschiebungen den Leser neu sehen zu lernen, eben mit dem jeweiligen Überbegriff. Daß dieser für eine ganze Periode, und für die, auch in den einzelnen Ländern unterschiedlichen und bei genauerem Hinsehen sich weiter differenzierenden Architekturauffassungen zu einfach ist, weiß Jormakka, und daß man erst immer widersprechen möchte, ist sein pädagogischer Trick. Es gelingt ihm, daß man mit Erwartung weiter liest, in den Unterkapiteln Bekanntes und Querverbindendes entdeckt und den Überbegriff in neuem Lichte sieht und schließlich selber wieder anfängt zu recherchieren.
Äußerst lehrreich sind die zahlreichen Exkurse in fast jedem Kapitel, die es verdienten eigens ausgewiesen zu werden: hervorgehoben sei die 'Zahlensymbolik' in der Renaissance, die bis zu den Griechen zurückverfolgt wird, die Psychologie der Wahrnehmung im Kapitel des Barock, die ihre Forschungsergebnisse aus der Gegenwart nimmt, der Begriff der 'Typologie' im 19. Jahrhundert, der bis zu Aldo Rossi führt, das Thema 'ästhetische Reinheit' im Kapitel Raum, dessen aristotelische Wurzeln aufgezeigt werden, oder 'Architektur und Gesellschaft', der die Situation in der Gegenwart erklärt.
Die Moderne wird zu knapp und zu ausschnitthaft betrachtet. Die Gegenwart erhält stark verkürzt nur einen Aspekt. Mit dem ungenauen Begriff 'Neominimalismus' setzt Jormakka zum Schluß auch noch inkonsequenterweise einen Stilbegriff an die Stelle einer Konzeption. Man müßte ihn mit dem Begriff 'Analoge Architektur' ersetzen, aber auch dieser träfe nur auf einen kleinen Teil des Bauschaffens in der Schweiz zu. Die Abweichung im 'Postskriptum' von der übrigen Konzeption des Buches zeugt von der Schwierigkeit, wenn man als Zeitgenosse zu viele Einzelheiten wahrnimmt, noch einen gemeinsamen Nenner zu finden. Aber vielleicht ist es überall in der Geschichte dort auch so, wo man genaue Kenntnis hat. Wahrscheinlich werden Akademiker bei aller umfassenden Belesenheit des Autors viele Unstimmigkeiten und verkürzte Schlüsse entdecken.
Als Beispiel will ich kurz auf die griechische Klassik eingehen, weil hier, zu Beginn des Buches Jormakkas Sicht und Methode besonders deutlich werden.: Jormakka widerspricht der üblichen Darstellung, die Besonderheiten am dorischen Tempel, wie die Wölbung des Stylobats, die Neigung der Säulen, die kleineren Abstände an den Endfeldern als eine 'optische Korrektur ' aus ästhetischen Gründen zu verstehen. Vielmehr analysiert er eine vorherrschende 'antivisuelle Tendenz der griechischen Architektur' nicht zuletzt aus einer sokratischen 'antiästhetischen' Einstellung heraus, der es viel mehr um die Erhaltung einer ideellen Ordnung ging. Das ist aber sicher zu allgemein formuliert. Folgt man den neueren Untersuchungen, die Manolis Korres für die große Ausstellung 'Griechische Klassik ' Idee oder Wirklichkeit', 2002 in Berlin und Bonn, im Katalog in einem Aufsatz 'Die klassische Architektur und der Parthenon' zusammenführte, so kennzeichnet die klassische Zeit als Endpunkt einer Entwicklung die 'Überarbeitung und Kanonisierung aller archaischen Bauformen', ihre Auswahl, Revision und Vervollkommnung, die an den einzelnen Bauwerken durch einen alles koordinierenden und vorausschauenden Architekten, und nicht mehr nur durch den Handwerker vollzogen wurde. Akzeptiert man eine Entwicklung, so kann man, eben im Vergleich zu den gestalterischen Ausprägungen der archaischen Zeit wohl schwerlich einen 'ausgeprägten Sinn fürs Ästhetische' abstreiten. Insbesondere, wenn man feststellt, daß die 'Überarbeitung' als eine visuell einschätzbare 'Harmonisierung' aller Einzelformen in Hinsicht auf das Bauwerk als ein Gesamtes angesehen werden muß. Die Minderung der Ungleichgewichtigkeiten unter den Einzelteilen, so daß keines mehr über das andere dominiert, stellt Korres der Einführung der Demokratie in Athen zur Seite, die eine Verteilung der Macht auf Viele bedeutet hat. Aus der griechischen Philosophie gewinnt Korres dann die Vorstellung des Strebens nach einer doppelten Harmonie: dem ideellen, immateriellen Einklang, der der Ebene der Genauigkeit des Entwurfes und der metrischen Genauigkeit entspricht, die am Bau mit den Augen nicht überprüfbar ist, steht der körperlich-materielle Einklang gegenüber, der in der geometrischen und der bautechnischen Genauigkeit eben über das Sehen nachvollziehbar wird und ein ästhetisches Ziel voraussetzt. Die 'Ionisierung' (Verschlankung) des dorischen Tempels beim Parthenon in dessen Innerem und die Vergrößerung der 6-säuligen Front des Grundtypes auf die 8 Säulen dort, lassen die Korrekturen in den Proportionen eben doch als optische und ästhetische und nicht nur einem ideellen System verpflichtete erscheinen. Nach Korres ist der Parthenon schließlich 'das undogmatischste Bauwerk der klassischen Architektur'. Die Behauptung einer durchgehend antiästhetischen Einstellung überzeugt nicht.
Jormakkas dramaturgischer Griff, das Kapitel zum griechischen Tempel mit Le Corbusiers berühmten Feststellungen einzuleiten, die Baukunst sei das präzise Spiel der primären Formen unter dem Licht, um die verbreitete Mißinterpretation der griechischen Baukunst als visuell dominierte Kunst aufzuspießen, ist wohl kalkuliert und erweckt die Aufmerksamkeit des Lesers, stellt aber in Bezug auf Le Corbusier nur die halbe Wahrheit dar. Le Corbusier illustriert seine Sätze nämlich nicht mit Fotos vom Parthenon, sondern von amerikanischen Getreidesilos, die er aus dem Deutschen Werkbundjahrbuch von 1912 entnahm. Die letzte Abbildung vor diesem Kapitel ist ebensowenig ein antikes Bauwerk, sondern der Domplatz von Pisa, Quader und Zylinder. Erst etliche Kapitel später, zur Darstellung der Auslese eines Produktes auf der Grundlage eines bereits entwickelten Standards, stellt er die Akropolis neben das Automobil. Parthenon ist für ihn in einem weiteren Kapitel insofern Höhepunkt der Baukunst als er 'reine Schöpfung des Geistes' und die eines Genies ist. Zwar entschleiert das Licht durch die Profilierung an den Bauteilen die Formen, aber es sind die 'Wechselbeziehungen der Teile', die Schaffung von Zusammenhängen, die Le Corbusier hervorhebt, und die ihn 'im Inneren bewegen'. Es ist also eher der von Korres definierte Harmoniebegriff, den Le Corbusier beim Betrachten des Parthenon empfindet. Die 'Anpassung an optische Gesetze' erwähnt er nur einmal bei einer Bildunterschrift, vielmehr betont er jedoch überschwenglich die 'Einheit der schöpferischen Idee', und die Strenge der wie vom Ingenieur gezogenen Linien.
Ich will mit dem Exkurs keineswegs ein Mißtrauen in die überzeugenden, zumindest aber überredenden Hypothesen und Ausführungen Jormakkas schüren. Ich denke, solcherart 'Ungenauigkeiten' sind unvermeidlich, wenn man die Geistesgeschichte der Architektur auf 210 Seiten so zusammenfaßt, daß es ungeheuren Spaß macht seine eigenen angelernten Kenntnisse irritiert werden zu lassen.
Zu Weiterstudium und Kritik angelegt ist das Buch ideal für Studierende, die auch den Zugang zur Originalliteratur haben. Daß nur wenige Abbildungen aufgenommen werden konnten, ist sicherlich für Leser, die nicht vom Fach sind, ein Hindernis, sich den anspruchsvollen Denklinien des Buches anzuvertrauen. Ärgerlich sind aber auf jeden Fall die allzu vielen Druckfehler, die ein Computer doch vor der Drucklegung anzeigen und korrigieren könnte. Das (rätselhafte und) knappe Inhaltsverzeichnis hätte durch die Überschriften der Unterkapitel ergänzt werden sollen, um beim Anblättern eine gewisse Vorstellung vom reichhaltigen Inhalt vermittelt zu bekommen.
Wenn ich eine Empfehlung aussprechen sollte, so würde ich die Lektüre dieses Buches mit seinen vielen ungewöhnlichen Einsichten vor die des zweiten, hier zu besprechenden legen,
F. Neumeyers Quellentexte zur Architekturtheorie. Quellentexte sind für mich 'Schlüsseltexte', in denen ich im Originalton und im Zusammenhang Gedanken und Worte finde, die für die Geschichte der Architektur wichtig waren, und die immer wieder zitiert und ohne ihren Zusammenhang interpretiert wurden. In einer solchen Sammlung sind auch solche Texte wertvoll, die einem Leser kaum oder nur schwer zugänglich sind. Das Problem einer Textsammlung ist aber natürlich immer die Auswahl und die Bestimmung der Auszüge aus ganzen Büchern.
Für die moderne Architektur und ihre unmittelbaren Vorläufer hatte Ulrich Conrads seit 1964 die wichtigsten Quellenbücher in den preiswerten Bauweltfundamenten zugänglich gemacht, wahrlich eine Pionierleistung. Für die Zeit davor gibt es sicherlich eine Anzahl erschwinglicher Nachdrucke, aber es fehlte bislang ein handhabbares Kompendium, das einen systematischen Start in die reichhaltige Welt der originalen Architekturtraktate ermöglicht hätte. Das wird mit diesem opulenten Buch versucht.
Texte von Vitruv bis zu Schinkel nehmen in Neumeyers Buch etwa ein Drittel ein, 140 Seiten, das 19. Jahrhundert mit der Entdeckung von Psychologie und Raum weitere 100 Seiten, Pioniere der Moderne 50, die Zeit von 1920 bis 1930 insgesamt 90 und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals 120 Seiten. Das 19. und 20. Jahrhundert, in denen die wichtigsten, bis in die Gegenwart wirkenden Konzepte zur Architektur entstanden sind, haben mit 70% ihre angemessene Bedeutung erhalten. 42 wichtige Namen der Architekturgeschichte kommen zu Wort. Neumeyer ist sich des Fragmentarischen bei einem fast schon unhandlich schweren Buches bewußt. Auf 70 Seiten führt er eine sachkundige Geschichte der Architekturtheorie aus, die er 'Nachdenken über Architektur' betitelt, und die die Textauswahl in ihren historischen und inhaltlichen Zusammenhängen mit den vielen, nicht im Buch abgedruckten Autoren und Texten verknüpft. Philosophen wie Wissenschaftler vom Menschen werden einbezogen, Fragen nach dem Stellenwert der Theorie, ihre Unverzichtbarkeit bis zum Klassizismus wie ihre Rückweisung in der Moderne der Zwanziger Jahre werden dargelegt. Der Leser erhält viele Einsichten in das undurchdringlich erscheinende Dickicht der theoretischen Äußerungen aus insgesamt zwei Jahrtausenden.
Die Einleitung bereitet den Leser darauf vor, daß die Texte ernsthaftes Studium erwünschen und nicht lediglich allgemein interessant sind, wie das noch immer unübertroffene 'Lesebuch für Baumeister', das Fritz Schumacher 1941 publizierte und darin neben Architekten und Theoretikern auch Kunsthistoriker, Dichter und Philosophen zu Worte kommen ließ, und so das Buch zu einer Entdeckungsreise in Gedanken- und Bilderwelten machte. Es ist als Band der Bauweltfundamente (ohne den bibliophilen Charme des Originals) dankenswerterweise nachgedruckt worden.
Zurück zu Neumeyers Buch. In dem von Jasper Cepl bearbeiteten Teil der Quellentexte findet der Leser vor jedem Text eine einseitige Einleitung, die den Zusammenhang im Gesamttext und im Werk des Autors aufzeigt . Das ist durchweg sehr gute editorische Arbeit. Mit den jeden Text begleitenden Literatur- und Quellenangaben (manchmal fehlt der explizite Hinweis auf die leicht zugänglichen Bauweltfundamente), sowie den am Schluß des Buches '250 ausgewählten Büchern für die Bibliothek des Architekten' ist der Band tatsächlich unentbehrlich für jeden denkenden und um Verstehen bemühten Architekten.
Neumeyers Buch ist aber auch für werdende Fachleute bestimmt, die sich in die Geschichte einarbeiten wollen, auch wenn die Summe der Texte in ihrem notwendigerweise begrenzten Umfang erst so etwas wie ein grobes holzschnittartiges Bild ergeben, in dem Schattierungen und feinere Zwischentöne durch weiteres Eigenstudium erarbeitet werden müssen.
Für das Verständnis der Baumeister zwischen Renaissance und Klassizismus und ihrer Traktate hat das Buch sicherlich zu wenig Abbildungen, auf die die Texte sich beziehen. Die meisten Bücher nach 1500 waren Bilderbücher mit Textkommentaren. Dazu ' wie auch für die neueste Zeit (Venturi, Ungers, Rowe) ' konnte jeweils nur eine kleine Auswahl eingefügt werden. Insofern ist das von Bernd Evers und Christof Thoenes herausgegebene Buch Architekturtheorie von der Renaissance bis zu Gegenwart (Köln 2003) mit ausgezeichneten seitengroßen Reproduktionen aus über 100 Architekturbüchern und jeweils ausführlichen Einführungen, die über die Inhaltsverzeichnisse hinaus die Inhalte erläutern, ein fast unentbehrlicher Ergänzungsband. Er ist es auch hinsichtlich der Zahl der repräsentierten Architekten.
Zu Neumeyers Buch möchte ich noch einige persönliche Anmerkungen machen, die die Auswahl der Texte betreffen. Jeder geht ja mit eigenen Interessen an die Geschichte heran. Was in der Einleitung so exzellent dargestellt und diskutiert wird, fehlt mir dann doch häufig als Text. Z.B. Vitruvs drei Aufgaben der Architektur: Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut, die durch alle Jahrhunderte immer wieder thematisiert wurden. Sie sind in den Zehn Büchern gar nicht einfach zu finden. Zwar im 1. Buch, aber im unscheinbar betitelten 3. Kapitel: 'Einteilung der Architektur', 2. Abschnitt. Als Einleitung des gesamten Quellenbandes hätte ich mir diese und vielleicht auch das 1. Kapitel des ersten Bandes mit der Vorbildung des Baukünstlers vorstellen können. Daß für die Auslese der Vitruvianer von Serlio bis Scamozzi Stichproben genügen und nur Palladio ausführlicher zu Worte kommt, ist einleuchtend, nicht jedoch, daß Claude Perrault dann mit einem ungekürzten Kapitel auf 20 Seiten Platz erhält. Seine Analyse des ästhetischen Urteils zwischen objektiv, feststehend und relativ, von der Geschmacksbildung abhängig bildet einen Scheideweg in der Bewußtseinsentwicklung. Aber entsprechend gekürzt würde der heutige Leser die wichtigen Argumente sicher besser erfassen können als in seiner ewig langen Ausführung. Seine Bedeutung verstehen könnte er wohl erst dann vollständig, wenn auch sein Gegner Blondel zu Worte gekommen wäre.
Bei Semper vermisse ich den Text zu den 'Vier Elementen der Baukunst', an denen Semper die wichtigen, gestaltgebenden Bauteile (Konstruktionen) mit der Bekleidungstheorie verknüpft. Verdienstvoll ist die Aufnahme des Textes eines Anonymus von 1785 'Über den Charakter der Gebäude', der Lavaters Physiognomik auf Bauwerke überträgt. Eine Entdeckung ist ebenfalls Adolf Göller, 'Was ist Wahrheit in der Architektur?' von 1887, ein Vortrag der die zu Ende des 19. Jahrhunderts modern wirkende Forderung nach der Kongruenz von innerem Aufbau und äußerer Erscheinung, von tatsächlicher Konstruktion und ihrem Ausdruck im Bauwerk in Frage stellt, eine Skepsis, die noch zu Mitte der Dreißiger Jahre auch Bruno Taut vertrat. Aber mit 17 Seiten erhält Göller, der kaum rezipiert wurde, gegenüber den bedeutenden Theoretikern Wölfflin und Schmarsow zu viel Gewicht. Sicherlich verdient er mit einer Position zwischen Semper und Wölfflin für eine Differenzierung der Theorien im späten 19. Jahrhundert auch endlich mehr Beachtung, wie es amerikanische Kunsthistoriker bereits vorgemacht haben.
Auch wenn ein gewisses Ungleichgewicht entstehen mag, so sind die nahezu vollständig abgedruckten Texte von in sich abgeschlossenen Vorträgen, wie Göller, oder H.P. Berlage, 'Gedanken über Stil in der Baukunst', Peter Behrens, 'Kunst und Technik' oder einzelne Aufsätze, wie Dagobert Frey 'Wesensbestimmung der Architektur' zufriedenstellender als die immer schwierigen Auszüge aus ganzen Büchern, sofern sie nicht, wie bei Geoffrey Scott, 'Die Architektur des Humanismus' oder Adolf Behne, 'Der moderne Zweckbau' ein ganzes Kapitel, also eine ganze Argumentationslinie umfassen.
Bei Le Corbusiers bekanntestem Buch 'Ausblick auf eine Architektur' ist die Auswahl ebenfalls schwierig. Neben der zitierten Maschinenästhetik, 'Augen, die nicht sehen', sucht man vergeblich den vollen Wortlaut zum Lob der primären Formen unter dem Licht aus dem Kapitel 'Drei Mahnungen an die Architekten'. Für die künstlerische Anschauung Le Corbusiers wäre mir aber das Kapitel 'Baukunst, reine Schöpfung des Geistes' das wichtigste.
Daß nicht alle Schlüsseltexte für das 20. Jahrhundert aufgenommen werden konnten, ist verständlich. Aber missen möchte ich eigentlich nicht Louis Sullivan ' 'Das Bürogebäude künstlerisch betrachtet' ' für die immer verkürzt zitierte Formel 'form follows function'. Hugo Härings 'Wege zur Form' oder ein Vortrag von Erich Mendelsohn hätten schon ein Gegengewicht zur eher klassisch-akademischen Orientierung der Auswahl sein können. Das Gegenstück zu Hitchcock-Johnson 'International Style' wäre etwa Bruno Taut gewesen mit dem Schlußkapitel 'Internationalität' aus 'Die neue Baukunst in Europa und Amerika', bereits 1929 geschrieben. Für die Nachkriegszeit hat Louis Kahn wichtige Konzepte formuliert, denen dann Venturi widerspricht. Ich sehe schon, all das ' wo bleibt ein Text von Otto Wagner oder Adolf Loos? - hätte das Volumen so erhöht, daß man es in zwei umfangreiche Bände hätte teilen müssen. Halten wir der Auswahl abschließend zugute, daß sie eben doch die weniger bekannten, die von den modernen Architekten vergessenen oder ignorierten Autoren ins Bewußtsein bringt. Man möge dem Rezensenten sein Herummäkeln verzeihen, aber der Autor hat es nicht für notwendig erachtet, dem Leser seine Kriterien für die Auswahl der Theoretiker wie der Texte im einzelnen mitzuteilen.
Im letzten Teil, der Gegenwart, werden Robert Venturi, Peter Eisenman, Colin Rowe und Rem Koolhaas dem Trio Aldo Rossi, Oswald Mathias Ungers und Leon Krier gegenübergesetzt. Man könnte deren Texte als die Grundlagen für die immer noch nicht abgeschlossene Kontroverse von 'Collage City' versus 'Rekonstruktion der europäischen Stadt', eben für die spezielle Berliner Diskussion verstehen. Allerdings fehlt dann wiederum Daniel Libeskind.
Juhani Pallasma und Alberto Pérez-Gómez, die beide wieder für eine ganzheitliche Sicht, für eine alle Sinne umfassende Lebenswelt eintreten, dienen zum Abschluß fast so als Wundenheiler.
Wer die ganze Breite der Architekturgedanken im 20. Jahrhundert sich vornehmen möchte, greife zu Akos Moravansky (Hrsg.) 'Architekturtheorie im 20. Jahrhundert' (Springer, Wien.New York 2003, 592 Seiten). Dort werden in freilich viel zu gekürzten Textauszügen nahezu alle Autoren und Architekten unter Themen zusammengestellt. Ausführliche Einleitungskapitel geben einen guten Leitfaden.
Ein echtes Nachschlagewerk für die Zeit nach 1960 bietet schließlich G. De Bruyn / St. Trüby (Hgg.), 'architektur_theorie.doc, texte seit 1960' (Basel u.a. 2003), konzipiert als thematisch sortierte Fortsetzung von Ulrich Conrads Pionierwerk von 1964 Programme und Manifeste der Architektur des 20. Jahrhunderts. Themen und Texte sind nicht nur an Architektur gebunden, vielmehr spiegeln sie die viel weitergehenden Diskussionen zwischen Bau und Welt, zwischen Ereignis und Gefühl, zwischen Tektonik und Landschaft. Jedes Kapitel ist mit einem Essay eingeleitet und einem Beispiel abgerundet.
Jormakka, Neumeyer und Moravansky verknüpfen ihre Bücher offensichtlich mit ihrer Lehre in Architekturtheorie. De Bruyn scheint wie einst Schumacher eher Lese- und Entdeckungslust im Sinn gehabt zu haben.