In ihrem Buch Der Balkan - Geschichte und Politik seit Alexander dem Großen, versucht die Autorin Dorothea Razumovsky mit dem Klischeebild des Balkans als brutaler und verrohter Region aufzuräumen, indem sie diesem Bild seinen historischen Hintergrund vorhält. Zu Beginn ihres Buches beschreibt sie daher zunächst einmal einige der Mißverständnisse und falschen Vorstellungen, die das Wort 'Balkan' bei vielen Menschen auslöst. Razumovsky versucht also eine andere Perspektive als die gewöhnliche im Hinblick auf die historischen Prozesse, welche die Region geprägt haben zu eröffnen und wirft zur gleichen Zeit einen kritischen Blick auf die verschiedenen Interessenskonflikte, welche die Balkanpolitik der Großmächte zu unterschiedlichen Zeiten geprägt haben. In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch deren politische Machenschaften, ihre Absichten, ihre Positionen und die Konsequenzen ihres Engagements auf dem Balkan heftig. Der Leser wird durch ein weites Feld an historischen Ereignissen und historischen Figuren, sowie deren spezifische Bedeutung für die Region und ihre historische Entwicklung geführt, und das alles auf bisweilen sehr amüsante und originelle Weise. Das ist auch der Hauptgrund, warum dieses Buch die Aufmerksamkeit einer breiten Leserschaft verdient, da es versucht, aus einem sehr komplexen Thema mit entsprechenden historischen Versatzstücken ein ansprechendes Mosaik oder besser gesagt Panorama zu gestalten.
Dennoch gibt es einige ungelöste Schwierigkeiten im vorliegenden Buch: Eine davon wird gleich zu Beginn des Werkes deutlich, wenn die Autorin zugibt, daß eine ausreichende Vertiefung der schwierigen Problematik nur in einem Dutzend umfangreicher Bücher, geschrieben von ausgewiesenen Experten, erreicht werden könnte. Daher ist es nur natürlich, daß das vorliegende Buch etliche Lücken und Mängel nicht vermeiden konnte. Aber man sollte in der Kritik vielleicht sogar noch einen Schritt weitergehen: Die Autorin konstatiert, daß die Hauptmotivation für ihr Buch in dem oftmals zu beklagenden mangelnden Interesse an, sowie dem offensichtlichen Unwissen über die Krise und Geschichte der Region, welche den Diskurs vieler Politiker sowie weiter Teile der Öffentlichkeit prägen, zu suchen sei. Aber das Ziel, diese Mißstände durch Aufklärung und Information zu beseitigen, entspricht nicht ganz dem Schwerpunkt, den das Buch dann später erhält.
Während sich die Krise der Region, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts die Welt in Atem gehalten hat, hauptsächlich im ehemaligen Jugoslawien abspielte, schien das Schwergewicht der historischen Analyse des Buches geografisch etwas mehr in den Südosten dieser Region verlegt worden zu sein. Man liest umfangreiche Beschreibungen von Rumänien und Bulgarien, von Ländern also, die gar nicht unmittelbar an dem Konflikt beteiligt waren. Im Vergleich dazu erhält die Geschichte der vom Konflikt unmittelbar betroffenen Länder wie Bosnien und Kroatien, die zumindest am Anfang der Krise die wichtigsten Brennpunkte des Geschehens bildeten, fast keine oder nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Es ist zwar einzusehen, daß die historische Darstellung der Entwicklungen in der Gesamtregion von einer Bezugnahme auf regionale Nachbarn profitiert, aber es scheint als ob die Autorin durch das Erweitern des geographischen Rahmens ihrer Analyse ihr ursprüngliches Ziel der Aufklärung unterminiert hat.
Razumovsky macht keinen Hehl daraus, daß sie sowohl eine Gegnerin des Krieges in Jugoslawien als auch eine Gegnerin des Fortbestandes von Nationalstaaten in einem multikulturellen europäischen Rahmen ist. Daher kritisiert sie den internationalen Standpunkt, der zu Beginn des Konflikts die politischen Entscheidungen dominiert hat, scharf. Dieser Standpunkt, so Razumovsky, hat vor allem unter dem Druck der deutschen Außenpolitik, dazu geführt, daß sowohl Kroatien sowie Slowenien als Staaten anerkannt wurden und daß in der Folge der Zusammenbruch Jugoslawiens und die Neugründung kleinerer Nationalstaaten im Südosten Europas in Kauf genommen worden sind.
Ihre Argumente gegen den Zerfall und für den Erhalt des Staatengebildes Jugoslawien verlaufen, grob gesagt, entlang politischer Argumentationslinien, wobei die Autorin die äußerst komplexen ökonomischen Fragen und Probleme des ehemaligen Jugoslawiens vernachlässigt, obwohl sie einen wesentlichen Faktor im Schwelbrand dargestellt haben, der schließlich die Krise des Balkans verursacht hat. Dazu kommt noch, daß Razumovsky eine genaue Analyse der Kräfteverhältnisse und der Machtstrukturen in der Region außer acht läßt und eine klare Alternative zur Anerkennung einzelner, kleiner Nationalstaaten nicht verfolgt. Außerdem wiegt es schwer, daß viele Ereignisse und Entwicklungen, die nach Beginn des Krieges im Jahre 1991 eingetreten sind und als besonders dramatisch angesehen werden müssen, wie etwa die ethnischen Säuberungen, die Zerstörung und Liquidierung ganzer Dörfer und Städte, sowie die Belagerung Sarajewos, mit keinem Wort erwähnt werden. Das alles ist nur schwer nachvollziehbar. Das Buch schließt dann mit einem düsteren Bild des Balkans, der nach Meinung der Autorin noch auf lange Zeit vom Prozeß der europäischen Vereinigung ausgeschlossen bleiben wird.
Hier zeigt sich auch die größte Schwäche des Buches: Geschrieben vor genau drei Jahren, erscheint wenigstens das letzte Kapitel - 'Draußen vor der Tür' -- nun im Lichte unserer Erfahrung als völlig obsolet. Die Situation in Südosteuropa ist heute eine ganz andere. Mittlerweile beteiligen sich alle Länder in der Region am Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, und Mazedonien und Kroatien haben schon die neuen Verträge mit der EU abgeschlossen und damit die Position als potentielle Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft erworben. Viele Ereignisse in der Region können sicherlich auch heute noch zu recht kritisiert werden, aber insgesamt verdient die aktuelle Situation nicht dieselbe Form der Schwarzmalerei wie im Jahre 1999, als die Autorin ihr Buch mit der pessimistischen Prognose schloß, daß Europa keinen Frieden finden werde, solange es nicht verhindere, daß seine weniger privilegierten Nachbarn ihre Unzufriedenheiten, internen Ungerechtigkeiten und anderen Differenzen ungehindert untereinander ausfechten können und zugleich aber vom großen Haus der EU ausgeschlossen bleiben.