Wenn man die Auswirkungen der amerikanischen Welthegemonie und des damit einhergehenden, allmählich unaufhaltbaren Siegeszuges der kapitalistischen Marktwirtschaft betrachtet, tut es gut, ab und zu eine kritische Gegenstimme zu vernehmen. In dieser Hinsicht hat sich vor allem die Anti-Globalisierungsbewegung mittlerweile als fester Bestandteil der weltweit politisch aktiven Protestszene etabliert. Und dennoch bedarf diese relativ junge und völlig dezentral organisierte politische Bewegung noch einer sie verbindenden theoretischen Basis, will sie nicht schon bald wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Im Zuge dieser Theoriefindung wird im vorliegenden Werk vorwiegend auf Karl Marx (1818-1883) - den alten Haudegen des Anti-Kapitalismus - rekurriert. In der Darstellung der Marxschen Theorien läßt Robert Kurz, der Herausgeber des Bandes, allerdings mit Absicht die Verbindung zwischen dieser Theorie und dem Klassenkampf sowie ihre Verknüpfung mit der Arbeiterklasse nahezu völlig außer acht. Diese Aspekte der Schriften von Karl Marx seien tot und begraben, wie uns Kurz immer wieder zu versichern versucht. An ihrer Stelle beschwört Kurz einen Marx, der völlig auf die Maßgaben des 21. Jahrhunderts zugeschnitten ist und als vehementer Kritiker des bevorstehenden Durchbruchs des Kapitalismus zum global dominanten Wirtschaftssystem auftritt. Kurz zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Manifest der kommunistischen Partei von 1848, in dem Marx und Friedrich Engels (1820-1895) wie folgt argumentieren: 'Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete'(S. 324). Der Autor konstatiert an dieser Stelle in etwas provokanter Manier, daß Marx in gewisser (aber entscheidender) Hinsicht unser Jahrhundert besser beschrieben habe als sein eigenes: 'Was für Marx als ‚Logik‘ des Kapitalismus sich darstellt, wird erst unter unseren Augen empirische Realität' (S. 320). In dieser Hinsicht ist der hier gelesene Marx auch eng verwandt oder sogar ein Vorläufer von Lenins (1870-1924) Imperialismusthese - als dem höchsten Stadium des Kapitalismus - oder auch der Thesen von solch illustren Weltsystemtheoretikern wie Samir Amin und Immanuel Wallerstein. Deshalb, so Kurz, könne Marx auch durchaus wieder als Stichwortgeber und Sprachrohr für eine junge Generation im nunmehr angebrochenen neuen Jahrtausend dienen.
Das Buch besteht aus häppchenartig zusammengestellten Textpassagen, die aus unterschiedlichen Schaffensperioden und verschiedenen Werken von Karl Marx (gelegentlich auch aus gemeinsam mit Engels verfaßten Schriften) stammen und vom Herausgeber als aussagekräftig und lehrreich für unsere heutige politische sowie wirtschaftliche Konstellation angesehen werden. In mancher Hinsicht ist das vorliegende Kompendium aber lediglich eine thematisch neu arrangierte und editierte Fassung von Das Kapital (Bd. 1: 1867, Bd. 2: 1885, Bd. 3: 1894), da andere Werke in der Textsammlung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Jedes der acht Kapitel des Bandes ist mit einer kurzen Einleitung in den Themenbereich der ausgesuchten Originalpassagen versehen, die durch einen interessanten, etwa 35seitigen Aufsatz 'Zur Einführung' mit dem Titel 'Die Schicksale des Marxismus - Marx lesen im 21. Jahrhundert' zu Beginn des Buches vorbereitet werden. Auffälligerweise findet sich darin nicht ein einziger Bezug auf den Kapitalismus als Weltsystem. Dieses Thema taucht erst mit der sehr viel kürzeren Einleitung zu Kapitel 'VI - Globalisierung und Fusionitis des Kapitals' auf.
Eine besondere Stärke der Marxschen Theorie ist jedoch die Tatsache, daß sie versucht, alle politischen Projekte mit einem plausiblen Netz von Handlungsmustern und Akteuren zu verknüpfen. In dieser Hinsicht sah er den Sozialismus auch als Handlungsprodukt und Ergebnis der gewonnenen (oder vielmehr zu gewinnenden) Macht der Arbeiterklasse an. Aber die 150 Jahre seit der ursprünglichen Veröffentlichung des Manifestes der kommunistischen Partei haben uns eine harte Lektion in dieser Angelegenheit erteilt: Einerseits ist die Arbeiterklasse bei weitem nicht so geschlossen wie von Marx angenommen dem sozialistischen Ideal gefolgt. Andererseits ist das, was unter dem Banner des Sozialismus an Reformen eingeführt und verkauft worden ist, weit hinter den Erwartungen seiner politischen Anhänger zurückgeblieben. Aber dennoch hat der Versuch der Verknüpfung einer Idee mit einer sie anwendenden und belebenden Gruppe von Akteuren ihre offensichtlichen Stärken. Kurz jedoch unternimmt diesen Versuch gar nicht erst. An einer Reihe von Punkten in seinem Buch wird ganz klar deutlich, daß er sich an einzelne Akteure und nicht an größere Gruppen oder gar eine Klasse wendet. Bezeichnenderweise zitiert er auch nicht die berühmte These 11, mit welcher die Notizen zu Feuerbach enden: 'Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an sie zu verändern'. Das marxistische System ist jedoch im wesentlichen darauf bedacht eine Gruppe oder Klasse von Akteuren zu befähigen, politische und wirtschaftliche Umgestaltungsprozesse durchzuführen. Kurz läßt diesen Aspekt der Schriften von Karl Marx völlig außer acht. Die vom Herausgeber im Gegenzug vielfach beschworenen handelnden Individuen mögen zwar die Welt an sich verstehen, aber es wird keineswegs deutlich, wie sie auch nur in irgendeiner Weise einen entscheidenden Einfluß auf diese Welt nehmen oder gar nehmen könnten.
Natürlich ist das Buch von Robert Kurz Teil eines politischen Projektes. Er glaubt mit aller Aufrichtigkeit immer noch an die Möglichkeit den Kapitalismus zu überwinden. Aber da er keine signifikante politische Bewegung sieht, die weltweit aktiv werden kann, beschränkt er sich, wie er es selbst nennt, auf die 'Reformulierung kritischer Theorie' (S. 403). Für ein im Jahre 2000 verfaßtes Buch ist das aber doch ein bißchen wenig. Zwar zeigt Kurz auf sehr effiziente Weise, daß der Kapitalismus in wesentlichen Punkten kritisiert werden kann und muß, aber er scheint die Entstehung neuer sozialer Bewegungen, wie etwa die der weltweit tätigen Anti-Globalisierungsgegner, die den jüngsten Treffen von internationalen Staatsmännern eine besondere Note verliehen haben, gar nicht wahrgenommen zu haben. Dieses Buch wird sicher nur wenig Munition für diese Anti-Kapitalismusgegner bereitstellen, aber es vermag sie vielleicht darin bestärken, daß ihre Proteste ein notwendiges, wenn nicht sogar ein entscheidendes Mittel der politischen Meinungs- und Willensbildung sind.