Theory of the global state
Globality as an Unfinished Revolution

Martin Shaws jüngstes Buch ist eine bemerkenswerte Leistung. Es enthält eine kritische Diskussion der Globalisierungstheoriedebatte in den Sozialwissenschaften (Teil 1), einen Überblick über die 'globale Revolution' des späten 20. Jahrhunderts (Teil 2), einen feinsinnigen Vorschlag für die Rekonzeptualisierung der Grundkategorien der Gesellschaftsanalyse (Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Staat) und schließlich eine kühne Analyse des, wie er es sieht, gerade entstehenden 'globalen Staates'.

Zu Teil 1 will ich hier nur sagen, daß Shaws Gebrauch des Begriffspaares Nationalität/Internationalität eine sehr einleuchtende Analyse des Nationalstaatensystems ermöglicht, da es die verstärkte Ordnung innerhalb der Nationalstaaten mit einer Hobbesianischen Unordnung in den zwischenstaatlichen Beziehungen verbindet. Dieses Modell des Zwischenspiels vor Nationalität und Internationalität beschreibt auch sehr gut die momentane Transformation des Nationalstaatensystems durch den Einfluß der Globalisierung.

Zu Beginn des zweiten Teiles seines Bandes läuft Shaws Strategie der begrifflichen Verfeinerung darauf hinaus, konkrete Begriffe wie etwa Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Staat aufzugeben und diese statt dessen als Niveaus zu begreifen, die für die auf dem jeweiligen Niveau befindlichen Sozialverhältnisse sowohl inklusiv wie auch konstitutiv sind (vgl. S. 176). Wie Shaw feststellt, werden solche Begriffe jetzt oft als altmodisch betrachtet, angesichts der Dynamik und der Unbegrenztheit der Sozialverhältnisse der Gegenwart (John Urrys Buch Sociology beyond Societies bietet eine mustergültige Analyse der hier kurz angedeuteten Entwicklung). Aber nach Shaw geht es zu weit, solche Begriffsbildungen als ideologisch abzutun und zugunsten verschwimmender Netzwerke von bestehenden Verhältnissen (Urry nennt das gelegentlich 'scapes') aufzugeben. Das gesellschaftliche Leben ist nach wie vor durch 'partikularistische Begriffe' bestimmt - so Shaw - Abgrenzungen sind zwar relativ, aber auch zugleich real: 'Man kann also gewissermaßen sehr wohl und auch sinnvollerweise von der britischen, der kurdischen oder gar der Zulu Gesellschaft, sowie von mehreren anderen infranationalen und transnationalen Netzwerken und Subkulturen sprechen' (vgl. S. 175f.).

Nach diesem besonders scharfsichtigen und vielversprechenden Vorschlag für die partielle Entkonkretisierung sozialwissenschaftlicher Begriffe wendet sich Shaw dem in vieler Hinsicht etwas umstrittenen Hauptthema des Buches zu. Nach Shaws Behauptung haben wir in den letzten 50 Jahren die Entstehung einer Staatsform erlebt, die er zuerst das 'global-westliche Staatskonglomerat' nennt, später dann, etwas informeller als 'den westlichen Staat' bezeichnet. Dies ist für Shaw der 'globale Fürst', dessen Verkörperung er - und hier folgt er eindeutig der Argumentation von Denkern wie Machiavelli und Gramsci - aufzeigen möchte. Der Ausdruck 'westlich' ist nur teilweise und peripher geographisch determiniert; Shaws westlicher Staat umfaßt nicht nur seine 'home base' auf beiden Seiten des Nordatlantiks, sondern auch Australien, Südostasien und Japan. Entstanden ist der Begriff, so Shaw, aus der Kriegsallianz des Zweiten Weltkriegs, dann des kalten Krieges zwischen NATO und Warschauer Pakt, wobei die besiegten Feinde Deutschland und Italien (die nunmehr in der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft und später dann in der Europäischen Gemeinschaft miteinander verbunden waren) sowie Japan den ehemaligen Platz der Sowjetunion im Verhältnis der Alliierten zueinander eingenommen haben. Während des kalten Krieges, so Shaw, existierte dieser 'westliche Staat' neben 'quasi imperialen Nationalstaaten' einerseits (gemeint sind hier vor allem Rußland, China, Indien sowie mehrere mittlere und kleinere Staaten, die in ihrem - auch militaristischen - Gebaren die Charakteristika des traditionellen europäischen imperialistischen Nationalstaates übernommen haben) und den 'neuen Staaten, Protostaaten oder auch Quasistaaten, die aus anderen Staatsformen entstehen oder entstanden sind' andererseits. Während dann das zwanzigste Jahrhundert langsam zu Ende ging, entwickelte sich allmählich der moderne 'westliche Staat' pari passu mit den globalen Staatsinstitutionen - UN, GATT, WTO, G7 - gleichsam durch sie operierend und sich dadurch formierend.

So behauptet Shaw etwa: 'Der gerade entstehende globale Staat wird durch die komplexe Artikulierung des globalisierten westlichen Staates mit seiner weltumfassenden Staatsmacht konstituiert. Keiner ist ohne den anderen mehr denkbar. [...] Der westliche Staat wird nur deshalb zu einem globalen Mittelpunkt, weil er die Fähigkeit besitzt, eine global gefaßte Staatsmacht auszufüllen sowie auszunutzen. Diese global gefaßte Staatsmacht ist ganz und gar vom westlichen Staat abhängig und daher unfähig, auf sich selbst gestellt ein globales Machtzentrum darzustellen oder aufrecht zu erhalten' (vgl. S. 255). Diesen Punkt ergänzt Shaw noch um folgende Behauptung: 'Diese global gefaßte Staatsmacht verdankt ihre politische Zweckmäßigkeit und ihre effektive Macht weitgehend dem westlichen Staat. In diesem Sinne trägt auch die Ausübung der globalen Staatsmacht den Charakter der Intervention des westlichen Staates in anderen Staaten' (vgl. S. 225).

Hier kommen zu den praktischen Ängsten vor einer Analyse, die einerseits zwar die mögliche Beseitigung des Krieges in großen Teilen der Welt, andererseits aber das Schreckensbild einer zentral verwalteten Welt anbietet, auch theoretische Bedenken hinzu. Der Ausdruck 'Staat' beginnt seinen konkreten Sinn zu verlieren; wie der Begriff 'Geist' in der Philosophie Hegels entzieht er sich den entscheidenden Fragen, etwa wo er sitzt oder worin er besteht. Im vorhergehenden Zitat sieht Shaws Modell ja implizit hegelisch aus: Der globale Staat tritt in der Erscheinungsform und den Handlungen des westlichen Staates auf.

Wie so oft in den Sozialwissenschaften stehen wir alternativen Beschreibungen bzw. Erklärungen gegenüber. Wo der Empirist in George W. Bushs Verwerfung des Kyoto-Protokolls zur Umweltpolitik nur eine voluntaristische und verantwortungslose Handlung sieht, beobachtet der Marxist ein Widerspruchsmoment in der Durchsetzung der transnationalen kapitalistischen Klasseninteressen, wohingegen der Globaltheoretiker Shaw lediglich eine Spannung im Betrieb des westlichen bzw. globalen Staates wahrnehmen würde.

Hier bietet Shaw ein ziemlich klares Formal-Kriterium bei der Wahl zwischen verschiedenen Niveaus der Analyse: Sein Modell tritt dann in Kraft, wenn die globalen Verhältnisse für Beziehungen auf niedrigeren Ebenen, so wie z.B. einzelnen Handlungen mächtiger Akteure in Staaten und supranationalen Organisationen, konstitutiv sind, wenn sie folglich also auch von letzteren abhängig sind. Was das praktisch bedeutet, ist in seiner Analyse weniger klar. Shaw gibt im vorletzten Kapitel zu, daß die EU und die USA unterschiedliche ökonomische Interessen haben. Man kann zwar die Erweiterung und die Vertiefung der EU und der NAFTA erwarten, aber ihre Verhältnisse zueinander bleiben weiterhin eine offene Frage.

Es kann wohl sein, daß schließlich die Hegemonie des Staats jenseits des Nordatlantiks siegreich und  für den Rest der Welt bestimmend sein wird, und zwar in einer vielleicht höheren, globalisierten Form, bei der die beiden Säulen des globalen Staates (i.e. die USA und die EU) bis zur Austauschbarkeit konvergieren, aber das setzt wahrscheinlich voraus, daß sich die EU zu einem präsidialen Regime entwickelt und daß die USA einen glaubwürdigeren Präsidenten findet.