Intensivmedizin

Auf dem Schreibtisch liegt ein dickes Buch über Intensivmedizin mit 1 431 Seiten und fast vier kg Gewicht. 165 Autoren (mit Co-Autoren über 300) aus dem gesamten deutschsprachigen Raum haben hier ihr Wissen und ihre Kenntnisse zu allen Bereichen der Intensivmedizin zusammengetragen. Unwillkürlich fragt man sich, ob man als Leser einem solchen Buch überhaupt gewachsen ist. Wenn man es trotzdem wagt und das Buch aufschlägt, sieht man sich bald angenehm überrascht: Die Struktur und Gliederung in allen Ebenen des Buches ermöglichen eine rasche und sichere Orientierung in dem an sich inzwischen schier unüberschaubaren Gebiet der modernen Intensivmedizin.
Das Inhaltsverzeichnis sieht 27 Kapitel vor, die in vier Abschnitten angeordnet sind: 'Grundlagen und Konzepte', 'Methoden der Diagnostik und Therapieüberwachung', 'Grundlegende Therapieprinzipien', 'Komplexe Störungen und spezielle Krankheitsbilder'. Durch die weitere Untergliederung der großen Kapitel in zahlreiche Unterabschnitte oder Teil-Kapitel wird zudem erreicht, daß die Länge des einzelnen Abschnittes, sehr vom Thema abhängig, in einer handhab- und lesbaren Größenordnung bleibt. So wird der Gefahr, den Leser mit allzu viel Material auf einmal regelrecht zu überrollen, wirksam begegnet. Die eigentliche Grundeinheit des Buches sind diese Teilkapitel, in denen jeweils eine Thematik geschlossen abgehandelt wird, so, wie man sie von einer sachlichen Fragestellung in der Ausbildung bzw. einem praxisbezogenen Problem im intensivmedizinischen Alltag ausgehend gestellt sieht (Themenbeispiele: Sicherung der Atemwege, Verbrennungen, Schädelhirntrauma, Diagnostische und interventionelle Radiologie, Interhospitaltransfer). Die in der oben dargestellten Gliederungsweise angeordneten Themenbereiche kommen aus sämtlichen Gebieten der operativen und nichtoperativen einschließlich der pädiatrischen Intensivmedizin. Basismaßnahmen der (Intensiv-)Medizin (z. B. Gefäßzugänge, beginnend bei der peripheren Venenverweilkanüle) werden genauso eingehend besprochen wie hochspezielle Maßnahmen (z. B. mechanische myokardiale Unterstützungssysteme oder die hyperbare Oxigenierung). Insofern finden der Anfänger wie der in der Fachausbildung befindliche Arzt, aber auch der fortgeschrittene Facharzt ein überreiches Themenangebot, aus dem er sich, dem aktuellen Bedarf entsprechend, eine Fragestellung herausnehmen kann.

Die Themenfülle, die keinen Bereich unerfaßt läßt, verdeutlicht zugleich den umfassenden und interdisziplinären Charakter der Intensivmedizin, die man eben schlecht in 'operativ', 'internistisch', 'neurologisch' usw. aufspalten kann, weil Überlappungen und Gemeinsamkeiten weit größer sind als die Differenzen in den fachbezogenen Fragestellungen, und was man im eigenen Bereich nicht oft erlebt, ist vielleicht besonders interessant: z. B. der Tauchunfall oder Kälteschäden für den, der im klimatisch gemäßigten Binnenland tätig ist.

Jeder Abschnitt ist von einem Experten geschrieben, in sich abgeschlossen und auch eigenständig zu lesen. Die kaum hoch genug einzuschätzende Leistung der Herausgeber ist, die vielen beitragenden Autoren gewonnen und ihre Arbeit mit einem so beeindruckenden Ergebnis koordiniert zu haben. Ein Viel-Autoren-Buch bietet die Möglichkeit, den Gedanken- und Erfahrungshorizont eines Einzelnen weit zu überschreiten, dementsprechend kommen die verschiedensten Blickwinkel, Einstellungen und Argumentationsweisen ('Schulen') zu Wort. Die umfassende Klammer um alle Einzelbeiträge bildet, neben der Einordnung in das Gerüst, das die Inhaltsübersicht vorgibt, die innere Gliederung, der jedes Kapitel folgt, so daß trotzdem der Eindruck hoher Geschlossenheit über das gesamte Werk hinweg entsteht.

Der formale Aufbau der einzelnen Teilkapitel folgt über alle Themen und Autoren hinweg einer einheitlichen didaktischen Struktur, die in sämtlichen vier Bänden dieser Lehrbuchreihe verwirklicht ist (vgl. WLA 1/2002): Im 'Roten Faden' am Anfang des Abschnittes wird, praktisch als Inhaltsverzeichnis, die innere Gliederung mitgeteilt. Die Überschriften innerhalb des Abschnittes sind ebenso an diesem roten Faden ausgerichtet wie die zusammenfassenden 'Kernaussagen' am Schluß, ein eiliger Leser kann die wichtigsten Informationen allein aus diesen beiden Abschnitten entnehmen. Im Inneren der Texte, die zweispaltig, also in einer gut lesbaren Zeilenlänge, gedruckt sind, finden sich drei weitere Strukturelemente, die optisch besonders hervorgehoben werden, den laufenden Text auflockern und ein gezieltes Lesen vereinfachen: In den 'Definitionen' werden Begriffe eingangs prägnant gefaßt, die 'besonders wichtigen Informationen' teilen grundlegende Tatsachen mit. Unter der Bezeichnung 'Tips für die Praxis' findet man konkret für die tägliche Umsetzung wichtige Dinge: Faustformeln, besonders zu beachtende Umstände, Tricks und Warnhinweise.

Das Buch bietet so dem Leser fertig an, was man sich früher mit viel Mühe und zahlreichen verschiedenfarbigen Markern an einem geschlossenen Text selbst zu erarbeiten hatte, und dies dürfte auch der Grund sein, warum man ein so umfangreiches Buch so erstaunlich 'leicht' lesen kann: Seitens der Autoren und Herausgeber ist hinsichtlich der gedanklichen Aufarbeitung des Materials wichtige Vorarbeit geleistet worden, der Gedankengang und die innere Ordnung jedes Abschnittes werden für den Leser offengelegt. Jederzeit kann man einen gerade gelesenen Abschnitt anhand des 'Roten Fadens' im Gesamtzusammenhang lokalisieren und dadurch viel besser den Überblick behalten. Sinnvoll ergänzt werden diese Strukturelemente durch zahlreiche Tabellen (461) und Abbildungen (290) und zum Teil sehr ausführliche Literaturverzeichnisse am Ende jedes Teilkapitels.

Haben wir nun hauptsächlich ein hervorragend sortiertes Nachschlagewerk vor uns, das man nicht eigentlich zum Lesen, sondern in erster Linie bei der gezielten Suche zu einzelnen Fragestellungen, und dann über den Zugang des Stichwortverzeichnisses gebraucht? Wirklich ist dies eine Möglichkeit, das Buch zu nutzen. 45 Seiten umfaßt das Register, dreispaltig kleingedruckt, also eine Unzahl von Stichwörtern (weit über 10 000 Begriffe), wobei die Hervorhebung der Hauptfundstelle ein unnötiges Blättern erspart.

Darüber hinausgehend kann das Buch aber tatsächlich auch zum Lesen empfohlen werden: im Rahmen der Aus- und Weiterbildung, um sich umfassend über wichtige Fragen der Intensivmedizin zu informieren, vor Prüfungen, um Wissen zu wiederholen und zu konsolidieren. Insofern handelt es sich um ein Lehrbuch im wirklichen Sinne. Schon beim ungezielten Durchblättern fallen immer wieder interessante Stichpunkte ins Auge, Themen, über die man unbedingt nachlesen möchte, selbst wenn man eigentlich etwas ganz anderes gesucht hat. Man braucht also viel Zeit, denn der Anreiz, sich immer wieder festzulesen, ist groß. Die 'Tips' möchte man z. B. lesen, um zu sehen, ob einem dieser Kniff, diese Formel schon bekannt war, anderenfalls, um sich etwas Neues oder praktisch Wichtiges zu merken. Ähnlich geht es mit den Strukturelementen 'Definition' und 'wichtige Information': Der Erfahrenere kann seinen eigenen Stand überprüfen oder neue Vorschläge im Zusammenhang mit seinen eigenen Kenntnissen wahrnehmen und überdenken. Wer sich in einem intensivmedizinischen Teilbereich jedoch neu fühlt und eine grundlegende Darstellung sucht, wird ebenfalls zufriedengestellt, und dabei sind grundsätzliche Informationen didaktisch glücklich mit praxisrelevanten Angaben verknüpft. Selbst ein erfahrener Facharzt wird immer wieder Neues entdecken, so daß das Buch letztlich einer sehr breiten Leserschaft nützlich sein wird und damit empfohlen werden kann.