Sterben
Zur Ethik der Euthanasie

Angesichts einer starken Pluralisierung in der Begründung normativer Handlungsregeln tritt in der angewandten Ethik seit einiger Zeit die Frage nach der Kohärenz ethischer Urteile in den Vordergrund. Unabhängig von weltanschaulichen Deutungen können ethische Urteile dann Überzeugungskraft entfalten, wenn sie sich in einsichtige und widerspruchsfreie Prinzipien und Regeln des Handelns überführen lassen oder sich reflexiv aus einer bestehenden kohärenten Handlungspraxis ableiten lassen. Unter dem Leitbegriff der Konsistenz ethischer Urteile unternimmt es Werner Wolbert, den reichen Bestand katholischer lehramtlicher und moraltheologischer Positionen zum Tötungsverbot unter gelegentlichem Verweis auf Positionen der evangelisch-theologischen Ethik daraufhin zu befragen, ob die für bestimmte ethische Spezialgebiete aufgestellten Kriterien und Unterscheidungen gleichermaßen auch auf anderen Gebieten geltend gemacht werden können (z.B. eine tutioristische Haltung in der Gentechnik bei der Todesstrafe) oder ob Widersprüche auch innerhalb ein und derselben ethischen Frage bestehen und auf Rationalitätsdefizite des ethischen Diskurses hinweisen. In der Spur dieser Fragerichtung soll darüber hinaus die Fokussierung der aktuellen Diskussion auf medizinethische Fragen überwunden werden: 'vielmehr ist die Konsistenz unserer Überzeugungen in allen Anwendungsfällen des Tötungsverbots zu prüfen' (S. 12).
Damit ist freilich auch schon hinreichend beschrieben, was diese Studie bietet, eine gründliche Problematisierung repräsentativer Positionen, Kriterien und Prinzipien sowie die Hervorhebung solcher Argumente, die zu Fragen wie Selbsttötung, Todesstrafe, gerechter Krieg, Schwangerschaftsabbruch oder Euthanasie berechtigterweise ethische Relevanz beanspruchen können. So wird beispielsweise die Relevanz der Unterscheidung zwischen aktuellen und potentiellen Personen, die in Bereichen wie der Abtreibung, der In-vitro-Fertilisation oder der verbrauchenden Embryonenforschung häufig ins Feld geführt wird, in Frage gestellt, insofern der verbindliche ethische Gehalt des Potentialitätsarguments in der bisherigen Diskussion nicht deutlich geworden sei. Beispielsweise sei doch wohl jede vermeintlich nur potentielle Person, der positiv Rechte zugemessen werden sollen, bereits eine aktuelle. Im Hinblick auf die traditionelle Unterscheidung zwischen 'Töten' und 'Sterbenlassen' vertritt der Autor die These von der 'modifizierten Signifikanz', demzufolge weder das Sterbenlassen grundsätzlich dem Töten moralisch übergeordnet wird noch beide immer moralisch äquivalent zu bewerten sind. Demgegenüber müsse diese Unterscheidung im Zusammenhang mit anderen jeweils gegebenen Faktoren zur ethischen Urteilsbildung herangezogen werden. Über diese gründliche und scharfsinnige Aufarbeitung bestehender Argumentationen hinaus werden leider kaum systematisch konstruktive und weiterführende Überlegungen entfaltet, die Position des Autors bleibt oft verborgen. Hier macht sich auch das Fehlen eines abschließenden Resümees bemerkbar - wurde doch immerhin der Anspruch erhoben, 'eine Behandlung des Tötungsverbots insgesamt' (S. 7) vorzulegen.
Einen auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Ansatz wählt Jean-Pierre Wils. Durch Beispiele aus epischen, poetischen und philosophischen Texten soll den Leserinnen und Lesern eine lebensweltliche Perspektive auf das Problem des Sterbens und seiner humanen Gestaltung eröffnet werden. Neben dem Aufbrechen weltanschaulicher Beschränkungen und den Komplexitätsreduktionen des Wissenschaftssystems steht dieser phänomenologische Zugang auch im Dienst der Forderung des Autors nach einer offenen, transparenten und enttabuisierten Diskussion der Probleme im Bereich der Sterbehilfe. Was eigentlich als Selbstverständlichkeit angenommen werden könnte, macht Wils anhand bestehender Positionen als Desiderat dieses ethischen Diskurses überzeugend geltend: die argumentative Rechtfertigung von Standpunkten anstelle 'hermeneutisch-evaluativer' Argumente, die - obwohl sie vor-normativen Charakter tragen - häufig eine vorgenommene Wertung mit einer 'norm-praktischen' Position identifizieren, die ein völliges Verbot fordert. Ein Beispiel hierfür erblickt er im schöpfungstheologischen Argument einer 'Sanctitiy-of-Life', die einer Verkürzung des als gottgegeben verstandenen Lebens fundamental entgegenstehe. Im Zentrum der dann vorgeschlagenen Haltung steht ein ethisch gehaltvolles Verständnis von Autonomie, das ein abstraktes oder solipsistisches Konzept von Patientenautonomie vermeiden und die Komplexität und Kontextbestimmheit von Entscheidungen, zumal leidender oder sterbender Menschen, berücksichtigen will. Angesichts pluraler Vorstellungen hinsichtlich guten Lebens und des Patientenwohls soll der von den Individuen angestrebten Stimmigkeit des bisherigen Lebens auch das jeweils singuläre Faktum ihres Sterbens in seiner Gestaltung entsprechen können. Ein intrinsischer Wert des Lebens wird dabei unabhängig von seinem je individuell zu bestimmenden Gehalt angenommen. Spätestens hier, in der normativ fruchtbar gemachten Frage nach Kohärenz individueller Lebens- und Handlungsformen, erweist sich diese Fragerichtung wiederum als virulentes Paradigma angewandter Ethik. Die damit vor allem hinsichtlich gesetzgeberischer Prozesse verbundenen Schlußfolgerungen wollen eine vorsichtige Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe aber an strenge Kriterien und Kontrollmechanismen 'für Ausnahmefälle' binden, ohne daß rechtliche Regelungen in diesem hochsensiblen Bereich jemals Irrtum, Mißbrauch und individuelle Schuld ausschließen könnten.