Es kommt immer wieder vor, daß eine lange unbeachtetes Thema plötzlich von mehreren Seiten aufgegriffen und behandelt wird - so geschehen mit den Horusstelen: Fast gleichzeitig mit dem vorliegenden Buch, der Habilitationsschrift Heike Sternbergs, erschienen das Buch von L. Kakosy, Egyptian Healing Statues in Three Museums in Italy, Turin 1999, und eine Reihe von Einzelbeiträgen in der Gedenkschrift für J. Quaegebeur (OLA 84, Leuven 1998) und an anderen Orten. Sternberg und Kakosy gehören zweifellos zu den besten Kennern der Materie, und so nimmt man Sternbergs Buch mit einer gewissen Erwartungshaltung zur Hand. 'Der Name Horusstelen', um eine von ihr andernorts gebotene Definition zu zitieren, 'ist ein Sammelbegriff für Stelen mit einer mehr oder weniger breit vorspringenden zylindrischen oder rechteckigen Basis, die ein gemeinsames Zentralmotiv auf der Vorderseite haben: das stehende, nackte Horuskind ist frontal, seltener schreitend im Profil, wiedergegeben, mit der Jugendlocke oder einem Gazellenkopf an der Stirn. Es steht auf zwei Krokodilen und hält Schlangen, Skorpione, einen Löwen und eine Gazellen in seinen Händen. Über dem Kopf des Kindes ist der Kopf des Gottes Bes ausgearbeitet. Vorzugsweise auf der Rückseite tragen viele Horusstelen Götterdarstellungen, die zu komplexen Bildfeldern ausgestaltet sein können. Auf der Rückseite, den Seiten der Basis und den Zwischenräumen können Inschriften angebracht sein'. Das sicherlich bekannteste Exemplar einer Horusstele ist die sog. Metternichstele.
Sternberg versucht, die von ihr erfaßten 433 Stelen in eine chronologische Ordnung zu bringen. Mit Hilfe der wenigen datierten Stelen knüpft sie ein Netz, in das die anderen auf Grund indirekter, stilistischer oder textlicher, Kriterien eingefügt werden; auf diese Weise umfaßt das 'Netzwerk' schließlich 300 Stelen (der Rest scheidet aus verschiedenen Gründen aus), die verteilt sind auf eine 1. Frühphase I (Neues Reich), 2. Frühphase II (21.-25. Dynastie), 3. Mittelphase (26.-29. Dynastie), 4. Frühe Hochphase (30. Dynastie-280 v.Chr.), 5. Mittlere Hochphase (280-180 v.Chr.), 6. Späte Hochphase (180-30 v.Chr.), 7. Endphase (-100 n.Chr.). Als 'Vorläufer' der Horusstelen nimmt Sternberg die sog. 'Sched'-Stelen hinzu, die ihre erste Phase bilden; der Ursprung dieses 'Retter'-Gottes wie seine Ablösung durch den jugendlichen Horus bleiben freilich weiterhin im Dunkel. Man kann über ihre Einteilung anderer Meinung sein - aber nur, wenn man etwas Besseres zu bieten hat, und das wird nicht einfach sein.
Sternberg begründet diese Klassifizierung jeweils mit einer kurzen Skizze des historischen Hintergrundes, auf dem sie die jeweilige Entwicklung der Horusstelen sieht, mit Statistiken, vor allem mit einem reichhaltigen Abbildungs- und Tafelteil, der es möglich macht, ihren Begründungen zu folgen - leider wurden ihr vom Louvre Fotos nicht genehmigt.
Zu den unerfreulichen Seiten des Buches gehört die inkonsequente Zitierweise in den Anmerkungen: 'S.' (=siehe), 'Vgl.' und direkte Nennung eines Zitats gehen willkürlich durcheinander. Die Hinweise auf die 'demotischen Schreibungen' (S. 147) sind verfehlt, der Umgang mit griechischen Texten und Zitaten zeugt von Unsicherheit (bes. S. 121, 165, 167). Hier wurden Auflagen der DFG für den Druck schlicht ignoriert.
Dennoch stellt das Buch einen deutlichen Fortschritt in der Diskussion über die Horusstelen dar. Wer zukünftig über dieses Thema arbeiten will, muß sich mit Sternbergs Buch auseinandersetzen.