Ein zwiespältiger Eindruck bleibt nach Durcharbeiten dieses inhaltsreichen Buches: Der kundigen Vermittlung von ägyptologischem Wissen, das für ein tieferes Verständnis der Moses-Geschichte nützlich sein könnte, stand die entschiedene Weigerung des Autors gegenüber, die von ihm erarbeiteten Interpretationsmöglichkeiten zu nutzen, nämlich für die Frühgeschichte der Israeliten und vor allem für die Geschichte der jüdischen Religion. Diese Differenz zeigt sich schon in dem unterschiedlichen Beiklang der Kapitelüberschriften im Vergleich des ersten, auf Ägypten bezogenen, mit dem zweiten, auf Israel bezogenen Abschnitt des Buches.
So finden wir im ersten Teil u.a. folgende Überschriften: 'Die ägyptische Herkunft des Namen Moses'; 'Moses, ein Jünger von Pharao '; 'Der ägyptische Prinz Mase-saja als Vorbild des biblischen Prinzen Moses'. Dies alles mutet recht sachlich an, und der Inhalt dieser Kapitel ist in der Tat informativ, auch wenn er vielleicht nicht in allen Punkten einen Ägyptologen überzeugen kann. Im zweiten Abschnitt jedoch schließen sich durchweg Infragestellungen an z.B.: (Unterstreichungen durch H.S.): 'Moses und die biblische Geschichte: Dichtung oder Wahrheit'; 'Exodus-Legende' oder 'Die biblische Moses-Legende als Dichtung der Perserzeit'.
Da fragt sich selbst ein geneigter Leser: Wozu bemüht sich Krauss so sehr, in vielen Ansätzen nachzuweisen, daß es einen historischen Moses gab, wenn er für diese Person dort, wo sie für die Israeliten wichtig wurde, keine Verwendung mehr hat, sondern ihn statt dessen zur Märchengestalt reduziert oder sogar diffamiert? Es ist auch unerfindlich, daß (wie Krauss es darstellt) die Israeliten unter persischer Herrschaft, um ihre eigene Identität zu behaupten, ausgerechnet einen ägyptischen Prinzen zu ihrem Religionsstifter wählen, wo doch der altisraelitische Abraham aus Ur in Chaldäa räumlich und zeitlich viel näher lag, und außerdem (nach Krauss) der Monotheismus eigentlich auf persische Traditionen zurückzuführen ist? Um diese überraschende Wendung zu begründen, muß Krauss aus Echnaton einen Doch-noch-Polytheisten machen, und aus den zutiefst dualistischen (zarathustrischen) Traditionen der Perser (auf die er auf S. 314ff. hinweist) muß er einen Doch-schon-Monotheismus destillieren. Dazu reicht Krauss folgende Behauptung: 'Perser und Meder waren der Lehre des Propheten Zarathustra verpflichtet, der die Verehrung eines einzigen Gottes verkündet haben soll' (S. 312), aber dafür führt er keine Belege an.
Im zweiten Teil des Buches und vor allem gegen Ende setzt Krauss seine Meinung, die Mose-Geschichte sei bloß ein Mythos, schließlich in Schmähungen um. Bei alledem bringt Krauss aber selber einige Hinweise für die Historizität bestimmter Aspekte des Exodus-Berichts. Zwar betont er: 'Aber weder schriftliche noch archäologische Quellen lassen auf die Existenz einer Gruppe von Zwangsarbeitern schließen, die in einer bestimmten Zeit im östlichen Nildelta ansässig war' (S. 213), und er präzisiert dies mit dem Hinweis auf das 'Fehlen archäologischer Zeugnisse für den Auszug aus Ägypten' (S. 223). Andererseits weiß er und gibt es in seinem Buch wieder (Karte auf S. 66), daß es zu der fraglichen Zeit tatsächlich archäologisch nachgewiesene kanaanäische Fundorte im östlichen Nildelta gab und daß die Israeliten ursprünglich fast die gleiche Religion hatten wie ihre kanaanäischen Nachbarn (sprachlich waren sie ohnehin eng verwandt). Archäologisch sind sie im palästinensischen Bereich kaum voneinander unterscheidbar, so daß die Schlußfolgerung erlaubt ist, daß in den 'kanaanäischen' Fundorten im östlichen Nildelta (auch) Israeliten lebten. Überdies merkt Krauss selber an, daß 'Völkerwanderungen [...] gewöhnlich keine oder nur ganz geringe Spuren [hinterlassen]' (S. 224), und daß 'die Beschneidung ursprünglich eine ägyptische Sitte war' (S. 300). Die Beweislage für den Exodus aus Ägypten ist somit so sicher (oder unsicher) wie die für die Geschichtlichkeit des Mose. Dennoch ist Krauss überzeugt, daß es einen geschichtlichen Mose gab, aber daß (derselbe?) Moses als Begründer der israelitischen Religion 'erdichtet worden ist'. Ich habe nicht herausfinden können, von welchen äußeren oder inneren Gründen der Autor zu einer derart seltsamen Parteilichkeit des Interpretierens motiviert worden ist.
Nach dieser Gesamteinschätzung bleibt als sachliches Ergebnis, daß Krauss mit seinen ägyptologischen Analysen das Interesse an der Aufklärung der Moses-Geschichte in Verbindung mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten wachgehalten hat. Aber einige Fragen warten noch auf Beantwortung.