Das Totenbuch pBerlin P. 10477 aus Achmim

An den Titeln nicht gleich erkennbar behandeln beide Publikationen die Texte und Bilder der Berliner Papyrusrolle P. 10477, die sehr wahrscheinlich zur Römerzeit im ersten Jahrhundert n. Chr. für eine Frau namens Neferet-iit, Tochter der Sistrumspielerin des Min namens Pesedjet und des Stolisten Hepmen, angefertigt wurde. Darüber hinaus werden von beiden Autoren Parallelen eingearbeitet: B. Lüscher hat auch den Papyrus Hildesheim 5248 erstmals photographisch publiziert sowie weitere Quellen in ihrer Synopse zu Spruch 1 des Totenbuches aufgenommen. H. Beinlich stellt den Berliner Papyrus in seiner hieroglyphischen Abschrift neben den ansonsten immer noch unpublizierten Papyrus MacGregor, dessen Edition z. Zt. in Amerika durch M. Mosher vorbereitet wird. Das Besondere an den verschiedenen Parallelen ist, daß sie auf einen gemeinsamen Ursprung in der Spätzeit-Metropole Achmim in Mittelägypten hinweisen. Das Totenbuch weicht auf den ersten Blick nicht von den Standard-Papyri der früheren Jahrhunderte ab und übernimmt sogar wieder die retrograde Schriftrichtung des Neuen Reiches: Die gleichmäßigen Totenbuch-Hieroglyphen werden in überwiegend senkrechten Zeilenkolumnen geschrieben und mit farbig ausgemalten Vignettenbändern oder ganzseitigen Illustrationen versehen. So wirken sie wie traditionelle Manuskripte. Beim näheren Hinsehen allerdings entpuppt sich die Orthographie als außergewöhnlich. Aufgrund der Vergleiche mit Tempelinschriften ermöglichen die Zeichenformen die Datierung ins erste Jahrhundert n. Chr. (Derchain-Urtel, in: HAT 6, S. 44f.). Die Texttradierung der Totenbuch-Teile erweist sich als relativ korrupt, da man sich bei der Vorlage 'mit einem - oder mehreren - teilweise (verstärkt in den hinteren Partien) bruchstückhaften Text begnügen mußte' (HAT 6, S. XIV). Die Fehler und Umarbeitungen in den Handschriften beweisen aber dennoch, daß 'die Textbehandlung dieser Zeit insgesamt nicht so schlecht gewesen ist, sich also trotz der langen Texttradierung des Tb [Totenbuches] über die Zeiten hinweg und seiner durchaus kommerziell zu nennenden Nutzung noch erstaunliche Kompetenz bei der Arbeit mit diesen funerären Texten erkennen läßt' (Rößler, in: HAT 6, S. 43).
Bei der Auswahl aus den in dieser Zeit zur Verfügung stehenden 165 verschiedenen Totenbuch-Sprüchen fällt ins Auge, daß im Berliner Totenbuch gerade die Kapitel fehlen, deren Themen in dem zusätzlichen, von Beinlich publizierten Teil aufgegriffen werden: die Versorgung der beweglichen 'Ba'-Existenz des Verstorbenen in Gestalt eines Vogels, der Luft, Wasser, einen Baum und dessen Schatten sucht (vgl. Tb 38 - 39, 54 - 63, 71, 85, 89, 91, 92, 100, 141). Auch alle Verwandlungssprüche fehlen im Totenbuchteil, darunter einige, die im Ba-Buch thematisiert werden: die Verwandlung der Verstorbenen in einen Falken (vgl. Tb 77 - 78), eine Schwalbe (Tb 86), die Sata-Schlange (Tb 87) oder den Phoenix Benu (Tb 83).
In dem von Beinlich 'Ba-Buch' genannten Teil, der zu Beginn der Papyrusrolle von einem der beiden Schreiber der Totenbuchtexte aufgeschrieben wurde, ist die Zeilen- und Textanordnung eine äußerst originelle Komposition. Zunächst beginnt der Text mit einer sehr langen Zeile (Text A), die das gesamte Schriftfeld von 148 x 23 cm doppelt umläuft, so daß der Leser bzw. Schreiber den Papyrus mehrfach um 90° entgegen dem Uhrzeigersinn drehen mußte. Dann setzt sich der Text innerhalb dieses Rahmens fort und wechselt hier z.T. zwischen senkrechten und waagerechten Zeilen (Text B-H). Bei den vier eingestreuten Vignetten sind die Beischriften wiederum in abenteuerliche Weise drapiert. Beinlich vermutet als Absicht dahinter, daß der Text, der links d.h. in Ägypten dem Osten beginnt, die Bewegungen und Tätigkeiten des Ba-Vogels nachahmt: Zunächst ruft er, links beginnend, in die Unterwelt hinab (A) und erhält Antwort (B). Es geht um seine Verwandlungsfähigkeit. Dann bittet er um seine Versorgung mit Wasser (C) und erhält wiederum Antwort mit der Zusicherung der Gunst der Götter (D). Im nächsten Abschnitt (E) wird konstatiert, daß der 'lebende Ba' über Atemluft verfügt. Die blattlose Sykomore ist nach Beinlich eventuell der Schlafplatz der Ba-Vögel, der Text (F) springt hier mehrfach, vielleicht um nachzuahmen, wie die Vögel immer hin und her zum Baum fliegen, wie er vorsichtig vermutet. Ein Totenopfer schließt sich an (G) sowie eine Anrufung an den Schöpfergott Atum mit dem Hinweis, daß der Ba zum ersten Mal ins Jenseits gelange (H). Die vier eingestreuten Vignetten sind aquarellartige Zeichnungen, die den Texten weitgehend entsprechen: 1) vier Ba-Vögel mit Libationsgefäßen, 2) vier Ba-Vögel aus einem Becken trinkend, 3) die Verstorbene mit verschiedenen Göttern, Isis und Nephthys über der Leiche des Osiris flatternd, die Verstorbene auf der Hathor-Kuh liegend sowie schließlich 4) die Sykomore mit elf kleinen Vögeln in den Zweigen zwischen zwei großen Ba-Vögeln.
In Bezug auf die Wiedergabe des Papyrus und seiner Texte bieten beide Publikationen zusammengenommen die ganze Palette der heutigen Möglichkeiten: sehr gute Farbfotos, etwas kontrastarme SW-Fotos, gescannte Fotos, bei denen leider die Konturen mitunter zu stark gerastert erscheinen, Umsetzung in Computer-Hieroglyphen sowie in moderne handgeschriebene Standard-Hieroglyphen. Letztere geben den Originaltext immer noch am besten wieder und sind vor allem für Synopsen sehr übersichtlich, wenn sie von so langjährig erprobter Qualität wie die der Autorin Lüscher sind. Man könnte sich fragen, ob denn bei einer hieroglyphischen Quelle eine hieroglyphische Umschrift überhaupt nötig sei. In der Publikation HAT 6 erfüllt sie mehrere Zwecke: Lesbarkeit, Übersichtlichkeit, Grundlage für die Einfügung von Zeilenzahlen, Tb-Spruch-Nummern und Anmerkungen zu Schrift und Text. In SAT 4 ist die Gegenüberstellung von Computer-Hieroglyphen und Übersetzung mit Kommentar zwar sehr praktisch, der Charakter der schönen Schriftzeichen, ihre Anordnung und Besonderheiten gehen aber leider ohne einen Blick in die Fotos verloren.

Barbara Lüscher: Das Totenbuch pBerlin P. 10477 aus Achmim, Wiesbaden: Harrassowitz 2000, 50 Seiten, 114.00 Euro.
ISBN: 3-447-03952-3.

Horst Beinlich: Das Buch vom Ba, Wiesbaden: Harrassowitz 2000, 77 Seiten, 69.00 Euro.
ISBN: 3-447-04275-3.