Das Mißverhältnis zwischen den Interessen des breiten Publikums und der etablierten Ägyptologie läßt sich am besten an den altägyptischen Mumien illustrieren. Während sie für die einen neben Pyramiden und Tutanchamun als bedeutendstes Phänomen der pharaonischen Kultur das Alte Ägypten par excellence verkörpern, sind sie selbst dem Museumsägyptologen, der eigentlich im Dienste der Öffentlichkeit stehen sollte, der Graus schlechthin. Diese Diskrepanz wird in jedem Ägyptischen Museum, in dem keine Mumie zu sehen ist, nur allzu deutlich: enttäuschte Gesichter bei vielen, die eigentlich nur wegen der Mumie(n) Eintritt bezahlt hatten, die sicher auch nie wiederkommen werden und auch Freunden vom enttäuschenden Besuch abraten werden. Der für ein ägyptisches Museum verantwortliche Ägyptologe schließt genau aus diesem Grund seinen Bestand an Mumien in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Depots weg. Er ist nicht bereit, die Sensationslust des Publikums zu bedienen, da die Mumien auf keinen Fall den Blick auf all die anderen, schöneren Dinge, die das Alte Ägypten künstlerisch hervorgebracht hat, versperren sollen. Paradoxerweise ist damit die Erwartungshaltung des Publikums an das Museum eine völlig andere als die des Museumsägyptologen an sein Publikum; das muß zwangsläufig zu Frustration auf beiden Seiten führen.
Auch die Debatte, ob tote Menschen in einem Museum öffentlich ausgestellt werden dürfen, wurde jüngst durch die Ausstellung Körperwelten neu entfacht, in der zu Kunstwerken hochstilisierte konservierte Leichen, sog. Plastinate, gezeigt wurden (zur Diskussion vgl. <A HREF='http://www2.hu-berlin.de/nilus/net-publications/ibaes1/Loeben/text.html'>http://www2.hu-berlin.de/nilus/net-publications/ibaes1/Loeben/text. html</A>). Das Votum des Publikums war eindeutig: Im kurzen Zeitraum, in dem diese Ausstellung z. B. 2001 in Berlin zu sehen war, hat sie - den Besucherzahlen nach - beinahe jeder Einwohner dieser Metropole gesehen! Dies sind Zahlen, von denen die etablierten Museen - selbst bei ihren vergleichsweise minimalen Eintrittskosten - nur träumen können.
Obwohl der Erfolg von Sonderausstellungen und Publikationen über Mumien eines besseren belehrt: Die altägyptische Zivilisation ist im wesentlichen nicht durch ihre äußerst faszinierenden Kunstwerke, sondern durch das Phänomen Mumie bekannt und beliebt. Kaum ein Besucher eines Ägyptischen Museums möchte auf sie verzichten (vgl. dazu die Umfrageergebnisse auf <A HREF='http://www2.hu-berlin.de/ nilus/netpublications/ibaes1/Statistik/text.html'>http://www2.hu-berlin.de/nilus/netpublications/ibaes1/Statistik/text.html</A>). Unter diesen Voraussetzungen verwundert es wenig, daß die Beschäftigung mit Mumien in den Sammlungsbeständen Ägyptischer Museen kaum von Ägyptologen ausgeht. Der Anstoß kommt meist aus einer anderen Richtung: von der Medizin. Denn Mumien stellen die Schnittmenge zwischen den beiden Fächern dar. Und weil die Naturwissenschaftler anscheinend immer geschickter darin sind, finanzielle Unterstützungen für ihre Projekte zu organisieren, sind es meist die Mediziner, die sich an die Museumsägyptologen mit der Bitte wenden, die meist magazinierten Mumien eines Museums untersuchen zu dürfen. Im wesentlichen ist solch eine Untersuchung bis heute auf das Interpretieren der Röntgenbilder und neuerlichen CT-Aufnahmen dieser Mumien beschränkt, obwohl sich die mit noch originalem Gewebe versehene Mumie immer mehr auch als idealer Forschungsgegenstand historischer DNS-Untersuchungen erweist. Jedoch ist der technische und finanzielle Aufwand, der hierbei zu betreiben wäre, immer noch zu groß.
Auch im Falle des vorliegenden Buches kam der Anstoß, die Mumien im Besitz der ägyptischen Sammlung der Königlichen Museen für Kunst und Geschichte in Brüssel zu untersuchen, seitens der Medizin. Um so erfreulicher ist jedoch, daß von den fünf verantwortlich zeichnenden Autoren der jetzt vorliegenden Publikation des Projektes drei Ägyptologen sind; Francot ist Radiologe, Van Elst Chirurg. Ihr Beitrag bei diesem Projekt war es, (nur) eine radiologische Untersuchung der Mumien vorzunehmen und sie zu kommentieren. Die Ägyptologen stellen hierbei das Museumsstück 'Mumie' in seinen forschungs- und museumshistorischen sowie - wo möglich - spezifischen kulturellen Kontext. Die Röntgenuntersuchung fand 1992 in den Museumsräumen statt und ihre Publikation wurde trotz ihrer luxuriösen Ausstattung nach nur sieben Jahren vorgelegt, was in der Ägyptologie durchaus als 'rasant' zu bezeichnen ist. Mit dem vorliegenden Band sind - zumindest für den ihn rezensierenden Ägyptologen - alle Ansprüche, die an eine adäquate Publikation von 'Museumsmumien' zu stellen sind, erfüllt worden, und es wäre sehr wünschenswert, würden andere ägyptische Museen diesem hervorragenden Beispiel folgen. Auch wenn, wie im vorliegenden Fall, kaum neue Erkenntnisse zum Thema Mumien zu erwarten sind, wären auf jeden Fall die Bestände einer daran interessierten Fach- und Laienwelt zugänglich gemacht und wenigstens eine äußerst fragile Gruppe von Museumsobjekten dokumentiert.
In diesem Sinne nehmen mehr als die Hälfte des Buches die Seiten mit den Illustrationen ein (S. 35 - 88), die aus vorbildlich gedruckten Schwarzweiß-Fotos der Objekte, den Röntgenfotos und sechs Farbfotos von ebenfalls hervorragender Qualität bestehen. Und genau mit diesem Teil des Buches kann der Band auch eine ganz besondere Aufgabe übernehmen, nämlich dem interessierten Museumsbesucher wenigstens am Museumsbuchstand (!) das zu zeigen, was er in den öffentlichen Museumsräumen so schmerzlich vermißt hat: Mumien, das sicher eigentümlichste und für viele Menschen spannendste Produkt der altägyptischen Kultur.