Zur Zeit betreiben in der Literaturwissenschaft fast alle Kulturwissenschaft, wenn auch sehr unterschiedliche. Vera Nünning führt - diese Beliebigkeit umgehend - eine klare Perspektive kulturwissenschaftlichen Arbeitens auf der Grenze zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft vor. Sie bestimmt Kultur als ein dynamisches Feld von Bedeutungen und Sinnzuweisungen, statt sich auf politische Ereignisgeschichte und sozialgeschichtliche Strukturen zu konzentrieren, und zeichnet ein mentalitätsgeschichtliches Bild der Sichtweisen, Strategien und Handlungsmöglichkeiten des Radikalismus in der englischen Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts. Dabei wird der Begriff des 'politischen Radikalismus' im jeweiligen politischen Gefüge dynamisch bestimmt, anstatt ihm feste Ideologien zuzuweisen. Radikale sind diejenigen Reformer, die 'weitreichende Reformen anstrebten, die über den bloß personellen Wechsel der Regierenden hinausgingen und auf weitreichende Veränderungen des Wahlrechts und der Zusammensetzung des Parlaments abzielten' (S. 16). Die Arbeit ist um die Schriften von Catharine Macauly, eine der einflußreichsten Persönlichkeiten in der damaligen englischen Gesellschaft, zentriert. Es werden insbesondere drei Medien zur Verbreitung radikaler Ideen untersucht: Geschichtswerke, Reden und Pamphlete der politischen Rhetorik sowie Erziehungsschriften.
Die Radikalen schließen an die 'civic tradtion' und die 'public virtue' an, an die Tugenden der Menschen, die der Nation zugute kommen sollen. Dieses Ziel gerät aber zunehmend mit der aufkommenden Kultur der Empfindsamkeit, die private Tugenden und Gefühle hervorhebt, in Konflikt. Nünning zeigt präzise die widersprüchliche Spannung, mit der die Radikalen innerhalb der Werte ihrer Zeit umgehen müssen. Zugleich verdeutlicht sie, daß 'Radikalismus' nicht automatisch emanzipatorische Positionen zur Stellung der Frau oder zur Rolle der unteren Schichten beinhalten muß. Macaulay tritt indirekt für eine Verbesserung der Stellung der Frau, insbesondere in Erziehungsfragen, ein, da es für sie keinen naturrechtlich begründbaren Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Charakter gibt.
Gerade die geschichtliche Begründung politischer Reformen erweist sich als zentrale Strategie der Radikalen. Macaulay versieht den Mythos der 'ancient constitution' Englands mit neuer Bedeutung, wodurch ein imaginäres Vorbild für eine politische Verfassung und gesellschaftliche Ziele geschaffen wird. Der Verzicht auf diese historischfiktiven Begründungsstrategien ist als - neben den restaurativen Folgen der Französischen Revolution - vorwiegende Ursache für den Niedergang der Radikalen in den 1790er Jahren auszumachen. Die sehr inhaltliche Textanalyse könnte durch eine Untersuchung der literarischen und semiotischen Schreibweisen, die zur Kreierung einer fiktiven 'ancient constitution' benötigt wurden, untermauert werden. Hingegen überzeugt die genaue rhetorische Analyse des Streits um die historische Bedeutung der Glorious Revolution zwischen Edmund Burke und Macaulay. Die Arbeit besticht durch einen sehr flüssigen und gut lesbaren Stil. Die Kombination, das Werk einer Person in den Mittelpunkt zu stellen und zugleich ein umfassendes Bild des Radikalismus im Kulturgefüge Englands des 18. Jahrhunderts darzustellen, überzeugt. Es ist zu wünschen, daß dieser Arbeit vergleichbare mentalitätsgeschichtliche und kultursemiotische Arbeiten zu anderen europäischen Ländern zur Seite gestellt werden, so daß auch umfassendere komparatistische Analysen möglich werden. Nünning hat einen kulturwissenschaftlichen Weg dahin vorgezeichnet.