Der Sprung über den Abgrund
Warum die Klimakrise uns zum Handeln zwingt

Ein Veränderungsberater (Arzt) und ein Fernsehmoderator (Astrophysiker, Naturphilosoph) nutzen die Ungunst der Corona-Pandemie, bevor das vielseitige mit ihr verquickte Ungemach „ein bisschen abflaut“, um für einen Sinneswandel in Bezug auf „die notwendige Veränderung des Klimaschutzes“ (S. 99) zu werben. Sie adaptieren dabei ein Modell, das ähnlich einem viralen Infektionsgeschehen der Verbreitung eines geänderten sozialen Verhaltens Bahn brechen soll. Dabei versprechen sich die Autoren, den Wandel insbesondere mithilfe einer eigens zugeschnittenen Geschichte herbeizuführen: „Das Narrativ von Klimawandel und Gesundheit - das ist eine ‚Mutante‘, die viel schneller übertragbar ist als viele andere.“ (S. 113)

Wenn, wie eben deutlich geworden, hier die Sphären der Naturwissenschaft mit jenen der Sozialwissenschaft konvergieren, was auch in problematischer Weise der Fall, so erscheinen zumindest durch den Präsentationsmodus sowie die Gliederung genannte Bereiche in bemühter, jedenfalls optischer Art getrennt. Der Verlauf bietet sich zum einen als ein gesprächsweiser Dialog der Autoren dar, zum anderen beinhaltet er Unterweisungen, das ‚Hintergrundwissen‘ zu den kapitelweisen Themen. Entsprechend ist jene Textsorte persönlicher, diese sachlich-allgemeiner gehalten.

Im ‚Infotext‘ erfährt man, dass hier auf „soziale Kipppunkte“ gesetzt wird, „weil sie die Macht der Überzeugungen ausspielen“ (S. 80), wobei derartige Kollektivwenden „durch die Diagnose des globalen Gesundheitsnotstands ausgelöst werden“ (S. 81). Die Infotexte enthalten auch Statistiken, Diagramme. Überhaupt ist es der Verlass auf die Gültigkeit des „Mehrebenenmodells“ (als Schema, S.107), das dann im Dialogteil die Autoren beteuern lässt: „unsere Geschichte ist so überzeugend, dass sie viele erreicht, unabhängig von Alter, sozialem Hintergrund oder politischer Präferenz.“ (S. 108) Die Dialoge befragen die Übertragbarkeit der „Einfachheit des Kleinen auch auf das Große“, und zwar mit „kleinen Schritten“ (S. 98). Besagtes ‚Mehrebenenmodell’ erklärt zudem, weshalb ihre Vorschläge einen exquisiten Zug tragen, denn: „Wir brauchen gar nicht so viele, aber wir brauchen die Richtigen.“ (S. 100)

Nach der eben auszugsweisen Wiedergabe von Stellungnahmen müssten einem Widersprüche, eine mangelnde Kohärenz in den Sinn kommen, kombiniert mit der Frage, wen diese Überzeugungsversuche genau adressieren. Selbst der Buchtitel hilft an Eindeutigkeit nicht weiter. Denn einerseits geht es um einen „Weg nach vorne“ (S. 115), eine „Richtungsänderung“ (S. 101), andererseits wird dafür plädiert, „nur zu dem zurückkommen [zu müssen], was früher üblich war: nicht jeden Tag Fleisch zu essen.“ (S. 71)

Passen für die Leserschaft das Autorenplädoyer für die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten („die größte individuelle Maßnahme […] gegen die Erderwärmung“; S. 71) zu ihrem generellen ‚Alarmismus‘ („Zerstörerische Anthroposphäre“, „Alarmierende Zukunftsszenarien“ bilden Titel von Unterkapiteln)? Endgültig kann man mehr verwirrt als klar verständigt zurückbleiben, wenn es zur Erläuterung des Buchtitels heißt: „in dem Sprung steckt auch eine Einladung zum Spielen, zum Ausprobieren, zur Variabilität und zum Mitmachen in einer neuen Dynamik.“ (S. 83)

Genannte Widersprüche sind diejenigen der Theorie vom ‚Anthropozän‘, der die Autoren konzeptionell anhängen (vgl. S. 57). Sie jedenfalls rütteln mitnichten an „den grundlegenden Gesetzen der Natur“, aus denen „der Mensch [bloße; P.R.K.] Funktionsvermutungen ab[leitet]“ (S. 58). Die hier beklagte „Ausbeutung des Planeten“ durch eine „globalisierte Kultur der Wohlstandsvermehrung“ (S. 57) demonstriert zwar durchaus eine Bemächtigung der Menschen, keinesfalls aber die in besagter Theorie behauptete Art von Herrschaft über Gegebenheiten, dessen Teil die Menschen sind (was für die Persistenz des ‚Holozäns‘ spricht).

In folgender Textstelle bleibt undifferenziert, ob es sich um die Naturgeschichte oder die Zivilisationsgeschichte handelt: „Die geschichtlichen [sic!] Abläufe, die allmählichen Veränderungen von wichtigen Systemparametern können sich spontan und ohne Vorwarnung entladen. Eine winzige, letzte Veränderung gibt dann den Ausschlag […,] [führe zu einer; P.R.K.] irreversible[n] Entwicklung.“ (S. 57)

Derlei unvorhersehbaren Umschläge sind in der Physik als (Quanten)Sprünge oder etwa als evolutionäre Sprünge im Bereich der Biologie bekannt; ähnliches gilt für ‚Mutationen‘. So sollen die ‚sozialen Kipppunkte‘ laut Autoren durch ein Bedenken der „schlechten Ernährung und Überernährung“ (S. 71) erzielt werden. Von Unterernährung oder gar den Ambitionen vieler Menschen, den Wohlstand‘ eines anderen, geringeren Teils der Menschen erreichen zu wollen, ist nirgends die Rede. Auf eine möglichst umfassende Politik in Kooperation, eine, die konzertiert auf die thematisierte Bedrohung mit einem Wissen um die ‚Naturgesetze‘ reagiert, wird dezidiert nicht gesetzt: „Wir können nicht erwarten, dass Energie-, der Agrar- oder der Verkehrssektor sich verändern“ (S. 74). An deren statt sollen Einzelne, und diese beispielgebend für Andere, durch eine Revision und Reversion ihres Verhaltens der Bedrohung, dem Fall in den ‚Abgrund‘ entgegenarbeiten, einen ‚Sprung‘ in der Natursphäre (Meeresspiegelanstieg, ‚Klimaumschlag‘ usw.) vereiteln.

‚Springen‘ und ‚Schritte nach vor oder zurück‘ sind nicht dieselbe Bewegungsart. Der Bildbruch in der Metaphorik einerseits des proponierten Springens, andererseits der Richtungsänderung rührt aus der Kluft, die es trotz allem zwischen der ‚Natur‘ und der ‚Kultur‘ gibt. Die Vorschläge der Autoren machen zur Voraussetzung, als ob es diese Kluft, den Hiatus, nicht gäbe.

Die hier empfohlenen Verhalten mögen tauglich sein. Auffällig ist aber die weite Unterschreitung effektiven Reparaturpotentials angesichts der Dimension der ökologischen Gefahrenlage; auch zeitlich bleiben die Vorschläge weit zurück: Schon 1972 [!] schrieb der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in ‚Homo consumens‘: „Eine realistische Einschätzung der großen Gefahr, in der wir leben, macht keinen Schritt aus ihr sinnlos. Früher hat mich diese düstere Perspektive entmutigt.“ (W.S.: Homo consumens. Hamburg 1984, S. 23)

Womöglich ist, als Subtext, mit dem gewählten Titel der sprichwörtliche Schatten gemeint, über den die meisten zu springen (noch) nicht für notwendig erachten.