Reise zum Ursprung der Welt
Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis. Unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy

Dass es im Vergleich zu altägyptischen Kultplätzen wie Karnak, Edfu, Dendera oder Abydos zu Heliopolis nur wenige allgemeine Darstellungen gibt, liegt vor allem an dem schlechten Erhaltungszustand der Tempelanlage, die bereits seit der Antike zur Steingewinnung (S. 331) abgetragen wurde.

Von dem wohl größten Tempelbau Ägyptens hat sich im heutigen Stadtbild am Rande Kairos denkbar wenig erhalten; viele Funde von dort verteilen sich auf ägyptische Museen und andere Kulturstätten weltweit. Zudem bedeutend sind die zu pharaonischer Zeit verfassten Texte, die vom Tempel in Heliopolis berichten und dessen zentrale religiöse Bedeutung für das Wohl des Landes und das des Herrschers hervorheben.

Alle diese Aspekte – Archäologie, Kunst und Philologie – hat Dietrich Raue in seiner höchst lesenswerten Reise zum Ursprung der Welt zusammengestellt. Ausgehend von den Grabungen dort, die der Autor 2012-2019 selbst mitverantwortlich leitete, verbindet er mythische Erzählungen über den Beginn alles Irdischen mit Hilfe aufgefundener materieller Hinterlassenschaften aus dem Areal des Heiligtums. Zahlreiche Abbildungen verdeutlichen und dokumentieren das Geschriebene und geben oftmals Einblick in die ägyptisch-deutsche archäologische Grabung mit deren interessanten und bedeutenden Funden.

Seinen Bericht über die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis hat Raue in zwei Abschnitte geteilt: Teil 1 ist überschrieben mit „Auf der Suche nach dem Ursprung“ (S. 17-127) und Teil 2 „Kleine Geschichte eines großen Tempels“ (S. 129-365). Zu Beginn erläutert der Autor die mythische Bedeutung des Ortes und dessen heute nachweisbare Topografie, anschließend fügt er die greifbaren Bruchstücke zu einer chronologischen Übersicht der Tempelgeschichte ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. (S. 131-164) über 2000-1600 v. Chr. (S. 165-198) und 1600-800 v. Chr. (S. 199-276), zu 800 v. Chr. bis 200 n. Chr. (S. 277-340) bis dessen frühchristliche Zeit (S. 341-365) zusammen.

In dem Raue eigenen, sehr lebendig gehaltenen Schreibstil gelingt ihm eine äußerst eingängige Beschreibung der verschiedenen Epochen des Tempels, seiner kultisch-religiösen Bedeutung – vor allem für das altägyptische Königtum – und der un- und mittelbaren Grabungsaktivitäten. Mit Hilfe zahlreicher übersetzter Stiftungsinschriften füllt der Autor vorhandene architektonische Lücken, um den Tempelbezirk vor den Augen der Leserschaft wieder auferstehen zu lassen. Klar benennt Raue auch die Grenzen, die sich durch materielle und textliche Überlieferungen nicht überschreiten lassen; umso eindrücklicher wirkt das, was sich aus teilweise unbedeutend erscheinenden Objekten und ihrer Fundsituationen ableiten lässt.

Mit zum Teil überspitzten Formulierungen lenkt der Autor das Interesse seiner Leserinnen und Leser auf zeitbedingt kurios anmutende Umstände: „Schlüsselqualifikationen eines Königs“ (S. 277) beschreibt z. B. den Umstand, dass der aus Nubien stammende Eroberer Piye die pharaonischen Riten so gut kannte, dass er die Schlüsselrituale selbst und nicht, wie üblich, durch einen Priester ausführen ließ. Oder dass um 370 v. Chr. mit Herrscher Nektanebos I. der hieroglyphische Thronname des Sesostris‘ I. (2. Jahrtausend v. Chr.) wieder auf Denkmälern in Heliopolis erscheint, diesen Umstand Raue mit „Cheperkara [so der Thronname lautlich geschrieben, Anm. d. Rez.] ist wieder da“ betitelt.

Der Verfasser hat ein profundes Sachbuch verfasst, exzellent bebildert, klar und schnörkellos geschrieben, das keine Vorkenntnisse voraussetzt und jede Interessierte und jeden Interessierten anzusprechen vermag. Raue erklärt vorbildlich, soweit es bekannt ist, die Funktion des Tempels, seine Entwicklung und sein Ende, passt diese Faktoren in die ägyptische Geschichte, Religion, Architektur und Kultur ein, und kontrastiert „seinen“ Tempel mit vergleichbaren Anlagen in ganz Ägypten, um die Besonderheit – die Einmaligkeit – des Tempels in Heliopolis zu dokumentieren.

Trotz seines beinahe 400 Seiten Umfangs ist das Buch kurzweilig zu lesen, nie wissenschaftlich-überheblich, sondern immer an den Bedürfnissen seiner Leserschaft ausgerichtet. Rezensent begrüßt derart vorteilhaft verfasste Werke mit Einführungscharakter, die für Studierende wie auch für geschichtlich Interessierte ideal sind, die einen schnellen, aber aus kompetenter Feder stammende Einstieg in ein Thema suchen, das ansonsten nur über zahlreiche Zeitschriftenaufsätze verstreut schwer zu erlangen ist.