Bewältigte Vergangenheit?
Die nationale und internationale Historiographie zum Untergang der Habsburgermonarchie als ideelle Grundlage für die Neuordnung Europas. Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. XII.

Der vorliegende Beitragsband, hervorgegangen aus einem Wiener Symposion 2014, nimmt sich einerseits inhaltlich des „kurze[n] oder lange[n]“ „Schlussstrichs“ an, „den die ‚Nachfolgestaaten’ und die ‚Siegerstaaten’ 1918“ zum Ende der Habsburgermonarchie gezogen haben, will andererseits „gleichsam den ‚Schlussstrich’ der Reihe ‚Die Habsburgermonarchie 1848-1918’ [bilden]“ (Vorwort). Als Projekt der seit 1973 bestehenden Reihe der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ versteht sich die Intention einer prinzipiellen würdigenden Anerkennung u.a. von Österreichs staatlichem Vorläufer von selbst, gleichwohl boten und bieten die Darstellungen, allein schon durch nachbarschaftliche wie internationale Beiträger und Wissenschaftlerinnen, keineswegs eine Apologie. So auch in diesem Fall!

Entsprechend ist in den maßgeblich historiographisch ausgerichteten Skizzen sehr häufig vom (auch staatlich verordneten) Verurteilen, Verdammen, Verschweigen die Rede; als geeignetes Mittel, die womöglich positiv zu berücksichtigenden Aus- und Nachwirkungen der Habsburgermonarchie auf diese Weise zu Ende zu bringen. Dies gilt sowohl für die Geschichtsschreibung selbst wie für die öffentlichen nationalen Erinnerungskulturen.

Allgemein lassen sich, von einzelnen – europäischen – Staaten fast wie aufeinander abgestimmt, Konjunkturen der Befassung mit dem Thema Habsburgermonarchie feststellen – mit einem markanten Anstieg „vor dem Hintergrund des Zusammenbruches des kommunistischen Osteuropa, der Sowjetunion und des Vielvölkerstaates Jugoslawien“ (S. 85). Nur wenige Beiträge, die ihrerseits eine aktuelle historiographische Position beziehen, benennen in Bezug auf gegenwärtige Problemfelder lösungsträchtige Traditionen, empfehlen Elemente aus dem Erbe der Donaumonarchie: wie Jana Osterkamp, nämlich nach dem Muster der altösterreichischen politischen Praxis und Strategie, „Föderalismus als Ordnung von Vielfalt zu verstehen“ (S. 456). Auch Helmut Rumpler, jahrelang Reihenherausgeber, fasst noch einmal das pädagogische Potential der Habsburgermonarchie zusammen, mit indirekter Spitze gegen eine bestimmte EU-Politik: „it was a prefiguration of Europe, a historical lesson for the fundamental problems of a supranational organization with a spiritual foundation going beyond peacekeeping and an economic community“ (S. 20).

Ein angestrebter „Schlussstrich“ erlaubt und lässt auch eine Bilanz erwarten: Die Bewertung der Entwicklung von Positionen der Geschichtsschreibung oder öffentlichen Meinung in den jeweiligen Nachfolgestaaten in Bezug auf das Verschwinden der Habsburgermonarchie, fällt im Urteil der Beiträger einmal bloß konstatierend neutral aus ( L. Szarka, A. Medyakov); dann bedauernd ( R. Pârâianu: „An Experiment that Failed: The Liberal Greater Romania“; M.v. Hagen: „The Entangled Eastern Front and the Making of the Ukranian State: A Forgotten Peace – A Forgotten War and Nation Building“) und schließlich verständnisvoll. So erklärt sich Ota Konrád die „Entfremdung der [tschechischen; P.R.K.] Bürger vom Staat mit der „desaströse[n] soziale[n] Lage“ von 1918 (S. 221) und die „siegreiche nationale Erzählung als ein erfolgreiches Integrationsmittel“ (S. 203); für Polen resümieren W. Borodziej/M. Górny: „die Erfahrungen der großen Mehrheit jener, die unter imperialen Fahnen gekämpft hatten, war eher entsorgungsbedürftige Last denn ‚lieu de memoire“ (S. 246).

Selbst für die Republik Österreich gilt, dass die Politik nach 1945, indem „leading to he West“, die Konsequenz barg: „the history of the Habsburg Monarchy was more or less ‚Eastern European history’“ (H. Rumpler, S. 14). – Zentral war hingegen die letztlich erfolgreiche „Suche nach der österreichischen Identität“. Erst Anfang der 70er-Jahre kam es zur Entspannung zwischen der Sozialdemokratie und den Habsburgern (E. Hanisch, vgl. S. 155, 161).

An zündenden Resultaten zum Thema stechen Alan Sked und Pieter M. Judson hervor: Sked mit seiner Feststellung: „there simply was no crisis“ of  „European civilization“ „before 1914“ und seiner relativierenden Einstufung des Ersten Weltkriegs, vergleichbar den Kriegen von Ludwig XIV, Friedrich dem Großen und Napoleon (S. 47). Judson erblickt angesichts des Zusammenbruchs der Donaumonarchie in der Hauptsache die historisch günstige und genutzte Gelegenheit für die USA, die ebenso erschütterte koloniale Herrschaft „under the guise of a civilizing mission“ erneut zu festigen (S. 395).

Der Beitrag von Raoul Motika: „Der Nahe Osten als Krisenerbe des Osmanischen Reiches“ mag als Beispiel für die Relevanz so mancher anderer zur Bewältigung von Krisen der Gegenwart dienen. Letztere scheinen eine zur Diskussion gestellte „bewältigte Vergangenheit“ der Habsburgermonarchie in den Schatten zu stellen.

Trotzdem gibt der Band auf die titelgebende Frage ausreichend Antworten, auch gemäß der Natur von historischen Fragestellungen, indem sie diese eben gerade – durch das Fragezeichen – nicht abschließt.