Altsteinzeit
Der Weg der frühen Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas

Homo migrans von Anfang an

Der älteste und bei weitem längste Abschnitt der Menschheitsgeschichte wird als Paläolithikum oder Altsteinzeit bzw. Ältere Steinzeit bezeichnet. Dieses Buch umfasst die enorme Zeitspanne vom ersten Auftreten des Menschen vor ca. 2,5 Millionen Jahren bis zur Ankunft des modernen Menschen in Europa vor rund 40.000 Jahren. Die Zeit bis zur Übernahme der sesshaften Lebensweise, also bis ca. 10.000 Jahre vor heute, wird dagegen nur am Rande abgehandelt. Innerhalb dieser langen Zeit kam es immer wieder zu Migrationsbewegungen von Afrika aus nach Eurasien, während derer sich vor allem das Klima der bewohnbaren Welt stark veränderte und es nötig machte, sich an Warm- und Kaltzeiten anzupassen. In 15 Kapiteln zeichnet Jürgen Richter, Professor für Prähistorische Archäologie am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Universität zu Köln und Leiter des Sonderforschungsbereichs „Unser Weg nach Europa“ der Universitäten Köln, Bonn und Aachen diese Wanderung und die Entwicklung bis zum anatomisch modernen Menschen nach.

Dabei wird deutlich, dass eine der Hauptcharakteristika der Entwicklung des Menschen die Bereitschaft und Fähigkeit war, auf der Suche nach anderen Lebensräumen weite Strecken zurückzulegen. Das Phänomen „Migration“ ist also kein modernes, sondern vielmehr, wie anhand der Forschungsergebnisse dieses Buches leicht nachzuvollziehen ist, ein Motor der Evolution. Richter sieht sein Buch als eine „Art Führung durch ein imaginäres Museum“ (S. 7), wobei er die Leser ermutigt, an jeder beliebigen Stelle einzusteigen oder zu schmökern. Dies ist aber nur begrenzt möglich, da die Kapitel und besonders die Unterkapitel stark aufeinander aufbauen. Es ist auch als eine Art Begleitbuch zur Ausstellung „2 Millionen Jahre Migration“ des Neandertal Museums Mettmann von 2017 zu sehen, obwohl es keinesfalls ein Ausstellungskatalog ist. Jürgen Richter beginnt, nachdem er in der Einführung eine Art „Gebrauchsanleitung“ für das Buch gegeben hat, klassisch und konventionell damit, die Forschungsgeschichte der Archäologie des Paläolithikums nachzuzeichnen. Danach begibt er sich dahin, wo alles begann: Nach Afrika, der Wiege der Menschheit, und stellt die ersten Menschenformen und die frühesten Kulturen vor, die sich dort entwickelten. Sodann folgt schon der Schritt nach Europa, als Migrationen die ältesten nachweisbaren Kulturäußerungen auf unseren Kontinent brachten. Ausführlich widmet sich Richter den fassbaren Hinterlassenschaften aus dieser Zeit, den Werkzeugen, Stichwort Faustkeil und Levallois-Konzept. Der Neandertaler in seiner Welt und seine Entwicklung nimmt einen breiten Raum in diesem Titel ein, ebenso wie die Entwicklung des modernen Menschen und dessen Ausbreitung in Europa (Kapitel 13). Dabei wird deutlich, wie eng die Verknüpfungen zwischen Afrika und Europa in dieser Zeit wirklich waren, man braucht sich nur die Tatsache vor Augen zu führen, dass alle heute lebenden nicht-afrikanischen Menschen aus einem einzigen Migrationsvorgang („Out of Africa“) stammen, der vor 70.000 bis 60.000 Jahren begann. Daran schließt sich ein Kapitel über das Jungpaläolithikum in Europa an und betont dessen autarke Entwicklung ohne afrikanischen Einfluss. Im Abschlusskapitel „`Homo migrans´: Zwei Millionen Jahre Migration“ zieht Jürgen Richter schließlich Bilanz. Dabei ist ihm wichtig, die Entwicklung der Menschheit nicht nur als eine lineare Abfolge von stetigen Verbesserungen und Fortschritten zu sehen, sondern vielmehr die Enden, das Verschwinden und Vergessen zu betonen, das die menschliche Geschichte viel eher charakterisiert. Er kommt zu dem Schluss, dass einige Migrationen ihren Anfang in Afrika genommen haben, der eurasische Raum eine Art Durchgangszone und Europa der Endpunkt und auch so etwas wie eine Sackgasse der Migrationsbewegungen war – allerdings kam es in paläolithischer Zeit zu keiner einzigen Gegenmigration, wohl aber immer zu Informationsaustausch zwischen den Kontinenten. Angesichts der Tatsache, dass die Welt es heute mit der größten Anzahl an Migranten aller Zeiten zu tun hat, schlägt der Autor zu Recht vor, Migrationen nicht zu bewerten, sondern als festen Bestandteil der Menschheitsgeschichte zu sehen, um existentieller Not zu entkommen, und eher zu überlegen, wie man diese mit ethischer und politischer Verantwortung organisieren kann.

Hervorzuheben ist der ausführliche Anmerkungsteil (S. 212 – 219), der Richters Ausführungen nachvollziehbarer macht und durch die zahlreichen Weblinks zum Weiterforschen einlädt, sowie das ebenfalls reichhaltige Literaturverzeichnis (S. 220 – 230). Sehr hilfreich ist die zusammenfassende Tabelle mit allen im Text vorgestellten Migrationsphasen (S. 208, Tab.9), obwohl die Lesbarkeit angesichts der kleinen Schrifttype etwas leidet.

Fazit: Diese Publikation ist lesbar, aber anspruchsvoll, und richtet sich somit eher an ein Fachpublikum, zumal Richter neueste Forschungsergebnisse einarbeitet. Dies liegt aber auch in der Natur der Sache, sind doch die materiellen Hinterlassenschaften der frühen Menschen zunächst ihre Knochen selbst, dann Steinwerkzeuge, deren Klassifizierung und Rekonstruktion ein hohes Maß an Abstraktion und Detailkenntnis erfordert. Die zahlreichen Grafiken, Abbildungen und Tabellen veranschaulichen aber den teilweise sehr theoretischen und schwer darzustellenden Text. Das Layout des Buches ist übersichtlich und durch die frische Farbgebung ansprechend gestaltet.