Ich, der ich zu Euch spreche
Ein Gespräch mit Giovanni Tesio

Primo Levis Werke sind längst Klassiker der Zeugnisliteratur, vor allem der unmittelbar nach seiner Rückkehr geschriebene und 1947 veröffentlichte Erinnerungsbericht „Ist das ein Mensch?“, aber auch sein letztes Werk, die Essaysammlung „Die Untergegangenen und die Geretteten“. Bei ihm kam alles zusammen – eine gute Beobachtungsgabe, ein analytisch scharfer Verstand und eine präzise wirkmächtige Sprache. So ist es kaum verwunderlich, dass Levi zum Klassiker avancierte.

1975 spricht er in dem kurzen Text „So war Auschwitz“, der titelgebend für einen neuen Sammelband mit weitgehend bislang nicht übersetzten Texten Levis ist, den Zeugnisdruck, den er bereits im Lager gespürt hatte, an. Zudem befürchtete er damals schon eine Zurückweisung seines Zeugnisses selbst durch die Familie und enge Freunde. „Doch“, so Levi, „erzählen müssen wir: Das ist eine Pflicht gegenüber den Gefährten, die nicht heimgekehrt sind, und eine Aufgabe, die unserem Überleben Sinn verleiht. Wir haben (nicht durch unser Verdienst) eine fundamentale Erfahrung gemacht und einige Dinge über den Menschen gelernt, die zu verbreiten wir für notwendig halten“ (S. 146).

Erzählen, Zeugnis ablegen war ihm Auftrag und sinnstiftend für das eigene Überleben, für das eigene Da-sein nach Auschwitz. Mehr noch – für Primo Levi war es existenziell. Im Gespräch mit Giovanni Tesio, das nun ebenfalls erstmals auf Deutsch zu lesen ist, sagt er: „Die zwei konvergierenden Umstände, der Beginn der Niederschrift von ‚Ist das ein Mensch?‘ und die Begegnung mit meiner jetzigen Ehefrau waren für mich zwei Rettungsfaktoren“ (S. 76). Und neben den Druck, das Leiden in Worte zu fassen, es in die Welt hinauszuschreien, tritt noch der Wunsch hinzu, die Welt aus den Erfahrungen der Überlebenden lernen zu lassen. Dies wird in allen Texten deutlich, die nun – endlich, möchte man sagen – auf Deutsch in einem Band vorliegen und dem Leser die Entwicklung von Levis zentralen Gedanken über die Jahre nachvollziehbar zu machen.

Es sind recht unterschiedliche Zeugnisse – Prozessaussagen, Reden zu verschiedenen Anlässen, Zeitungsartikel und anderes mehr. In ihnen wird für viele Leser heute, für solche zumal, die Levis Werk kennen, wenig fundamental Neues zu finden sein. Gleichwohl lohnt ihre Lektüre allemal, denn sie bieten einen spannenden Einblick in die Gedankenwelt Levis und legen die Ursprünge und Zeitpunkte der Entstehung manches Gedankens offen. Überdies ist es immer ein Genuss, Levis klare und prägnante Sprache zu lesen. Ein wenig geschmälert wird dieses Vergnügen allerdings durch eine unzureichende Kommentierung.

Dieses Manko jedoch kann mit Hilfe des vorzüglichen Nachworts, das Maike Albath dem Gespräch Levis mit Giovanni Tesio folgen lässt, wunderbar kompensiert werden. Sie liefert eine konzise Darstellung über den Zeugen Primo Levi, die Genese seines Zeugnisses und die verschlungenen Wege ihrer Rezeption, bevor Primo Levi der Klassiker der Zeugnisliteratur wurde.

Das Gespräch selbst erweist sich in Teilen für Leser, die nicht mit allen Werken und der Biographie Levis vertraut sind, als recht unzugänglich. Eine begleitende Lektüre etwa von Levis „Das periodische System“ scheint unbedingt empfehlenswert. Dessen ungeachtet gelingt es Tesio im Gespräch, auch Erinnerungsblockaden Levis im Hinblick auf seine Jahre als Jugendlicher und junger Erwachsener offenzulegen, ohne diesen dabei voyeuristisch bloßzustellen.

Der Band „So war Auschwitz“ bietet einen lesenswerten und unbedingt zu empfehlenden Querschnitt durch Levis Gedankenwelt und erschließt deren Entwicklung neu, während das Gespräch mit Giovanni Tesio in weiten Teilen Lektüre für ‚Fortgeschrittene‘ ist. Dies zu werden, könnte und sollte Anstoß der beiden Publikationen sein, denn Levis Werk sollte auch heute noch unbedingt gelesen werden.