Mut und Melancholie
Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten

Norbert Bicher, gelernter Journalist und ehemaliger Pressesprecher der SPD-Bundestagsfraktion, lädt in seinem jüngsten Buch die Leser auf eine Reise in eine Zeit ein, deren Protagonisten und manche ihrer Themen heute zunächst sehr weit entfernt scheinen. Dies tut er mit einer Reihe von Dokumenten rund um das Verhältnis zwischen den beiden Nobelpreisträgern Willy Brandt und Heinrich Böll – wobei es letztlich nur wenige Briefe der beiden sind.

Vor nunmehr 50 Jahren, als die westdeutsche Republik aufgeregt über die sogenannten Notstandsgesetze diskutierte, kamen Brandt und Böll miteinander ins Gespräch. Sie begannen damit einen kritischen Dialog – einer Meinung waren sie bei weitem nicht immer, anfangs weniger als später. Er erreichte höchste Dichte und Intensität um das Jahr 1972 und reichte mit längeren Unterbrechungen bis zum Tode Heinrich Bölls.

In manchen Zeugnissen Brandts zeigt sich einmal mehr, dass er, wie vielfach schon konstatiert, dem Gegenüber ein Gefühl von Nähe simulieren konnte und auf Distanz bedacht war bzw. ein Zuviel an Nähe kaum aushalten konnte. Gleichwohl scheint es, als war es Böll möglich, ein bisschen weiter vorzudringen, ein höheres Maß an Vertrautheit und Zugewandtheit zu erreichen, anders etwa als der stets etwas aufdringlich daraufhin arbeitende Günter Grass. Deutlich wird dies unter anderem in Brandts Brief zu Bölls siebzigsten Geburtstag im Dezember 1977, der sich deutlich abhebt von den ebenfalls im Buch abgedruckten Briefen Helmut Schmidts und Herbert Wehners (vgl. S. 189-195).

Gehört das Thema RAF schon länger zur Geschichte, die alle Jahre wieder medial in Dokumentationen und inzwischen auch Spielfilmen hervorgeholt wird, vermitteln die Briefe und Dokumente doch ein recht lebendiges Bild von der damaligen beiderseitigen Hysterie, in der die typisch wägenden und (selbst)zweifelnden Gedanken Brandts sowie die mahnenden Worte Bölls, die quer zum Zeitgeist der Mehrheitsgesellschaft standen, kaum durchdrangen. Nicht zuletzt hier zeigt sich, dass eine solche lesende Zeitreise manches über die damalige Gegenwart verraten mag, oft jedoch mehr noch über unsere Zeit heute. Die Denunziationen und das Verächtlichmachen von Personen wie Böll, unter anderem durch eine enthemmte „Bild“, ist auch heute noch denkbar und zu beobachten. In zum Teil etwas anderen, zum Teil ähnlichen Konstellationen zeigt auch die Hysterie angesichts begrenzter Terrorgefahr eine beharrliche Beständigkeit.

So maßlos und mitunter Menschen verachtend auch Organe wie die „Bild“ gegen Böll und andere agitierte, so zeigt sich auf der anderen Seite aber auch der bekannte Ton einer Daueraufgeregtheit, die verbal immer am Limit agiert und damit oft über das Ziel hinaus schießt oder nur ins Leere zielt. Der Umstand, dass der CDU-Wirtschaftsrat regierungsnahen Zeitungen oder solchen, die er dafür hielt, Anzeigen ‚entzogen‘ haben soll, wird in einer Wahlkampfrede Bölls als nichts Geringeres denn als „Zensurcharakter“ (S. 151) eingestuft. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Es war und ist auch eine solche Rhetorik einer dauernden Empörung im Superlativ, die das eigene Anliegen untergräbt und sich lautstark um ihre Wirkung bringt.

Unter dem Strich erweist sich die Lektüre des Bandes so als durchaus lehrreich – sowohl für die so fern scheinenden siebziger und achtziger Jahre als auch für unsere Zeiten. Gleichwohl ist das Buch nicht frei von Mängeln. Die recht zurückhaltende Kommentierung ist von einer recht willkürlichen Beliebigkeit; während Baldur von Schirach auf Seite 85 erläutert wird, bleibt der auf der gleichen Seite erwähnte CDU-Minister unkommentiert; auf Seite 186 ist der SPD-Politiker Bentele eines Kommentars würdig, Brandts und Bölls namentlich nicht bezeichneter „gemeinsamer Moskauer Bekannter“ (S. 186) aber nicht. Gerade solche Stellen aber, an denen Leser sich die Informationen nicht umstandslos zusammengoogeln können, hätten einer Kommentierung bedurft. Dies gilt umso mehr, wenn sich solch ein Buch an einen größeren Kreis richten soll als nur an Zeitgenossen.