Anatomie des Holocaust
Essays und Erinnerungen

Anlässlich des 90. Geburtstags des verstorbenen Holocaustforschers Raul Hilberg haben Walter H. Pehle, Hilbergs Lektor bei Fischer, und René Schlott, der an einer Biographie Hilbergs arbeitet, diesen Band mit 13 recht unterschiedlichen Texten Hilbergs herausgegeben. Thematisch schlagen die Beiträge einen breiten Bogen durch das gesamte Œuvre – im ersten Teil Aufsätze unter der Überschrift „Forschungen“ zu den Motiven der Deutschen oder zur Bürokratie, im zweiten zu „Kontroversen“ wie der jüdischen Führung im Holocaust oder des Kohl/Reagan-Besuchs in Bitburg 1985 und in einem letzten mit „Erinnerungen“ überschriebenen Abschnitt recht persönliche Texte zur eigenen Forschung und den unternommenen Forschungsreisen. Die ältesten Beiträge sind in den sechziger Jahren, der jüngste kurz vor Hilbergs Tod entstanden.

Das jeweilige Publikationsdatum gilt es im Auge zu behalten bei der Lektüre. Dann nämlich zeigt sich, dass Hilberg mit seinem Aufsatz „Die Anatomie des Holocaust“, erstmals 1980 veröffentlicht, der westlichen Forschung weit voraus war. Alleine dieser Text enthält den ganzen Hilberg – und damit auch seine Leerstellen – und sein Können: die klare analytische Struktur, seine luzide Sprache, pointierte Urteile und quellennahes Arbeiten. Zur gleichen Zeit war die westdeutsche Zeitgeschichtsforschung zum Beispiel weit entfernt, Holocaustforschung zu betreiben. Vielmehr erging sie sich in theoretischen Debatten über einen starken oder schwachen „Führer“; Fragen zum Holocaust wurden, wenn überhaupt, meist fern von den Quellen im Abstrakten erörtert.

In seiner Erörterung über „Die Motive der Deutschen für die Vernichtung der Juden“ bringt er zentrale Ausgangspunkte einer Täterforschung auf den Punkt, wenn er schreibt: „Um zu ergründen, welche Art von Geist zu einem solchen Verbrehen fähig war, müssen wir die Tat selbst betrachten. Erst wenn wir das Verbrechen beschrieben und eingeordnet haben, lassen sich die Motivstrukturen der Täter erkennen“ (S. 35). Nicht im Abstrakten verweilen, sondern empirisch gesättigte Antworten auf konkrete Fragen suchen, dieses Credo Hilbergs zeigt sich auch hier – ein Vierteljahrhundert bevor eine Täterforschung sich zu etablieren begann. Und so wusste Hilberg schon 1965, als er diesen Aufsatz schrieb, dass „Funktionsträger, allein oder in einer Gruppe, frei schalten und walten [konnten], solange sie nicht von ihren Vorgesetzte in die Schranken gewiesen, von Konkurrenten behindert oder von Untergebenen zu Fall gebracht wurden“ (S. 45). Den Holocaust sah er so schon Mitte der sechziger Jahre klar als Gesellschaftsprojekt, der NS-Täter sei „weder durch seine Herkunft noch durch sein Wesen von der damaligen deutschen Gesellschaft zu trennen“ (S. 49).

Beiträge wie „Die Anatomie des Holocaust“ oder der zu den Motiven zeigen aber nicht nur Hilbergs Vorreiterrolle, sondern auch seine blinden Flecken: Als eigentliche Quellen für eine Geschichte des Holocaust sieht er fast nur solche aus den Apparaten der Täter an. Eine Sichtweise, die mal forschungspragmatisch zu rechtfertigen gewesen sein mag, die aber zu einer Gesamtschau des Ereignisses nur einen, wenn auch wichtigen und entscheiden Teil beitragen kann und andere Teile ausblendet. Es ist der Blick der Täter und ihre in den Dokumenten festgehaltene Perspektive, die Hilberg seiner Analyse zugrundelegt. Wenn es aber um die eingeforderte Beschreibung des Verbrechens geht, sollte diese doch nicht allein unter Zuhilfenahme der Täterperspektive vorgenommen werden. Überdies blendete Hilberg die vielfältige Holocaustforschung, die vor allem Überlebende teilweise noch während des Geschehens, vor allem aber unmittelbar danach begannen. Dies sollte bei der Lektüre nicht vergessen werden.

Einer solchen Einschränkung zum Trotz ist die Lektüre dieser in Teilen erstmals auf Deutsch verfügbaren Beiträge auch heute noch ein Gewinn. Dies gilt in besonderem Maße für den letzten Abschnitt, in dem die persönlichen Beiträge, die seinen Erinnerungen an Forschungsreisen gewidmeten Texte versammelt sind. In ihnen zeigen sich nicht nur die manchmal verschlungenen Wege der Holocaustforschung und eines ihrer wichtigen Protagonisten, sondern es offenbaren sich tiefe Einblicke in lange wirksame Abwehrhaltungen und Verhärtungen in der bundesdeutschen Gesellschaft gegen eine kritische Betrachtung der eigenen Geschichte, denen Hilberg sich in den siebziger Jahren noch bei seinen Recherchen zur Rolle der Reichsbahn zum Beispiel ausgesetzt war.

Die versammelten Beiträge führen dem Leser nochmal eindrücklich Hilbergs Lebensleistung vor Augen und halten auch heute noch manche erhellende Erkenntnis bereit. Sie zeigen aber auch, dass es an der Zeit ist für einen kritischen Blick auf das Werk Hilbergs. Den lässt das Vorwort der Herausgeber noch vermissen, aber in einer Biographie kann und sollte dies nachgeholt werden.