Räume des Möglichen
Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918-1961)

Die als Band 50 in der von Rüdiger vom Bruch und Gabriele Metzler herausgegebenen Reihe „Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ veröffentlichte Abhandlung von Anna Lux macht auf sich zunächst mit dem gediegenen Umfang von fast einem halben tausend Textseiten aufmerksam. Es sei den weiteren Überlegungen vorausgeschickt, dass der Publikationsinhalt mit der staatlichen Größe des Unterfangens problemlos korrespondiert. Das als überarbeitete Fassung einer an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig verteidigten Dissertation erschienene Buch gliedert sich in drei groß angelegte Teile, die aussagekräftig überschrieben sind: „Die Kraft der Beharrung. Institutionelle Entwicklungen“, „Germanistenleben. Akademische Praxis und Wirklichkeit“ sowie „Vom Wandel in der Kontinuität. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Theodor Frings und Hermann August Korff“. Die dargebotene Struktur ist übersichtlich und lässt mannigfaltige Lektüremöglichkeiten zu: sei es in chronologischer Anordnung, mit Hauptakzent auf den jeweiligen Instituten oder auf den Spuren der wissenschaftlichen Hauptakteure.

Die Analyse des Wechselverhältnisses von Germanistik und Politik im 20. Jahrhundert, das nicht erstmals aufgerollt wird, verortet Anna Lux explizit in den Universitätsinstituten, die sie als „kleine Einheiten“ aussondert und aus diversen Perspektiven beleuchtet. Ausgehend von strukturellen Bedingungen, werden die jeweiligen Akteure im überschaubaren Milieu platziert sowie auf ihre Handlungsweise in Forschung und Lehre befragt. Die im Titel erwähnten „Räume des Möglichen“ bedeuten Sphären individueller Aktivität, die im Wechselspiel mit Forderungen der wissenschaftlichen Einrichtungen, der Gesellschaft sowie der Politik verteidigt worden sind. Dabei akzentuiert Anna Lux den Subjektstatus jeweiliger Gelehrten, die jeweils ihre eigene Antwort auf den Druck von außen auszuarbeiten vermochten.

Die herangezogenen germanistischen Institute in Leipzig, Berlin und Jena werden bei weitem nicht gleichwertig behandelt, wobei die Leipziger Einrichtung ausdrücklich als „Dreh-und Angelpunkt der Untersuchung“ fungiert. Das hauptstädtische sowie das thüringische Seminar funktionieren innerhalb der Abhandlung als Vergleichsgrößen, die aufgrund bereits geleisteter Bearbeitung guten Kontrast für das bislang unterbeleuchtete sächsische Institut darbieten. Zeitlicher Rahmen der Abhandlung (1918-1961) richtet sich auf den ersten Blick nach den Eckpfeilern deutscher Geschichte: dem Weltkriegsende sowie dem Mauerbau. Schwerer wiegen jedoch andere Umstände und zwar die Lehrzeiten von zwei Koryphäen deutscher Germanistik Theodor Frings und Hermann August Korff , die sich vage an die Daten knüpfen. Ihr Wirken, Ausstrahlung und Reüssieren unter veränderten politischen Systemen bildet eine grundlegende Faszination der Autorin, die den beiden Ordinarien außerordentlich viel Raum widmet. Im Titel unerwähnt, steigt die Beschäftigung mit der „doppelten Kontinuität“ in der Leipziger Germanistik zu einem unverkennbaren Rückgrat der Abhandlung auf.

Methodisch gesehen ist die Arbeit in erster Linie nicht auf eine tiefgehende theoretische Fundierung erpicht, sondern lässt die Quellen in einer kritischen Analyse zu Wort kommen. Erst auf dem Fundament empirischer Untersuchungen erfolgt am Ende jeweiliger Kapitel vorsichtig ausgewogene Schlussbetrachtung. In diachronischer Perspektive werden die Antworten auf die Herausforderungen großer politischer Umwälzungen der Jahre 1918, 1933 sowie 1945 plausibel vor Augen geführt. Der synchronische Zugriff fördert die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Institutsentwicklung der drei Standorte zutage, die von jeweils divergierenden Begleitumständen geprägt waren. Die Autorin probiert eine „Kombination verschiedener Zugänge“ aus, was jedoch dem kohärenten Stil ihrer Narration keinen Abbruch tut.

Die Schrift ist auf der Grundlage einer imposanten Quellenvielfalt entstanden, die sowohl aus gedruckten als auch archivalischen Materialien besteht. Ins Blickfeld von Anna Lux sind die Bestände von den Universitätsarchiven in Leipzig, Jena und Berlin geraten, die das Fundament ihrer Recherche bilden. Als wichtige Ergänzung fungieren die Sammlungen genuin politischer Provenienz im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden, Berliner Bundesarchiv, Leipziger Stadtarchiv, Archiv der Sächsischen Akademie der Wissenschaften sowie die Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Dem Überblick eingesehener Bestände sind Indizien dafür abzugewinnen, dass besonderes Interesse der Verfasserin der Leipziger Germanistik gilt, was im Einklang mit der Textstruktur sowie explizit geäußerten Absichten bleibt. Es ist hervorzuheben, dass Anna Lux die gewonnenen Archivalien mit mannigfaltigen „Egodokumenten“ in Zusammenhang bringt, von denen sie Korrespondenzen, private Aufzeichnungen und Tagebücher erwähnt. Am interessantesten wirken die im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie an der Harvard und Columbia University (USA) gesichteten Nachlässe, die sich sowohl quantitativ als auch qualitativ aussondern. Die wissenschaftliche Neugier von Frau Lux reichte jedoch soweit, die in privater Hand befindlichen Materialien einzusehen bzw. regelrechte Fahndungen nach verschollenen Nachlässen durchzuführen, wie im Falle der intellektuellen Hinterlassenschaft von Hermann August Korff. Zu den großen Vorteilen der Arbeit gehört, dass die Autorin von den mannigfaltigen Bemühungen inklusive fehlgeschlagener Versuche detailliert berichtet, was einzigartige Einblicke in ihre Arbeitsweise garantiert.

Wie selbstverständlich mussten die wissenschaftlichen Publikationen der Germanisten sorgfältig ausgewertet werden, wobei erwartungsgemäß die kleineren Textsorten - „Aufsätze, Reden, Vorworte, Zeitungsartikel“ für die Fragestellung ergiebiger waren, denn eben darin und nicht innerhalb der Qualifikationsschriften die Akteure eher dazu tendierten, politische Stellungnahmen zu formulieren oder ihre ideologischen Ansichten zur Geltung zu bringen. Dabei bewegt sich Anna Lux souverän innerhalb der neuerdings anschwellenden Forschungsliteratur zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, die sie trefflich bewertet und für die Ausformulierung eigener Ansätze benutzt. Die Verfasserin scheute nicht die Mühe ihre Erkenntnisse mit den Informationen aus den Zeitzeugengesprächen zu ergänzen, was der Narration eine weitere wichtige Facette verleiht.

Im Mittelpunkt vom Interesse der Verfasserin befindet sich, wenn auch nicht immer mit Nachdruck ausgesprochen, das Phänomen der Kontinuität und Stabilität innerhalb der germanistischen Institute in struktureller, personeller wie auch wissenschaftlicher Hinsicht. Der so formulierte Ansatz wirkt innovativ, zumal dieser eine nuancierte, in den Urteilen wohltuend zurückhaltende sowie auf Einzelanalysen basierende Narration erforderlich macht. Eine Plattform für weitreichende Analysen vom Mikrokosmos jeweiliger Institute bildet eine Erfassung ihrer personellen, finanziellen sowie materiellen Ressourcen. Die akribische Nachzeichnung der abwechselnden Studentendynamik als auch die Kontextualisierung ihrer Fluktuation gehört genauso zur Universitäts- wie der Fachgeschichte, wobei diese als unentbehrlich für weitere Segmente der Abhandlung einzustufen ist, die eine „Strukturgeschichte der Germanistik“ anstrebt.

Die Narration des Buches gewinnt in ihrem zweiten, der „akademischen Praxis und Wirklichkeit“ gewidmeten Teil, zusätzlich an Konturen, wo die zwei Seiten des Universitätslebens aller Gelehrten eingehender Untersuchung unterzogen werden- ihre Berufungen und Abgänge. Wenig überraschend ist die Menge der herangezogenen Unterlagen, die die dargestellten Abläufe lückenlos dokumentieren. Die Stärke der Narration liegt darin, dass sich Anna Lux nicht in einer trockenen Berichterstattung verliert, sondern die den Dokumenten abgewonnenen Informationen konsequent mit der Egoproduktion sowie den Zeitzeugenaussagen konfrontiert. Auf diese Weise treten uns plastische Porträts wissenschaftlicher Akteure entgegen, die zuweilen über Anekdoten, Alltagsdetails, skurrile Gewohnheiten, den Eindruck spürbarer Präsenz erwecken. Auffällig ist darüber hinaus der persönlich gehaltene Ton der Narration, der den Eindruck von nachhaltiger Freude an der Kommunikation mit dem Leser erweckt.

Geschickt eingeflochten in die Narration sind die Schilderungen der jeweiligen Methodenstreits wie die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern klassischer Philologie und den Befürwortern der Geistesgeschichte, die am Beispiel der Berufungen von Albert Köster, Erich Schmidt sowie Hermann August Korff eingehend diskutiert werden. Hochinteressant wirken die Charakteristika vom „echten Künstler der Wissenschaft“ Friedrich Gundolf, der dem Ruf von Heidelberg nach Berlin schließlich u.a. im Zusammenhang mit der antisemtischen Hertzkampagne gegen seine Person nicht folgte. An keiner Stelle führt die Autorin den Leser zu ideologiebelasteten Gemeinplätzen, die eine Wiederholung einiger aus der Forschungsliteratur übernommener Wertungen bedeuten würde. Statt dessen bemüht sie sich selbst im Falle des Wissenschaftsalltags im Dritten Reich um eine Grenzziehung zwischen einer oberflächlich fortdauernden „Berufungsnormalität“ und der schleichenden Politisierung, die auf nicht immer offensichtlichen Wegen voranging. Feinfühlig analysiert Lux das traurige Phänomen der Denunziation als übler Bekämpfungsmethode potentieller Konkurrenten in der Fakultät. Ein Paradebeispiel solcher Vorgehensweise bilden die Fallanalysen zu Alfred Hübner und Bruno Schier in Leipzig, die als „forschende Wissenschaftler“, „politisch motivierte Wissenschaftsakteure“ sowie schließlich auch Privatpersonen mit unbedingtem Karrierestreben auftauchen. Die Autorin geht an der Stelle soweit, das Studentenbuch einer älteren Dame in Leipzig zu konsultieren, was didaktisches Angebot der Dozenten zu verifizieren hilft. Der bekannte Fall einer Ehrendoktorwürdeverleihung für Adolf Bartels erhält zusätzliche Beleuchtung über eine Analyse von Reaktionen der Leipziger Ordinarien, die äußerste Zurückhaltung beibehielten. Dank exzellenter Quellenauswertung fallen die Kapitel zum USA-Exil deutscher Germanisten und ihrer polarisierten Schicksale in Übersee genauso überzeugend aus. Diese sind mit besonderer Verve verfasst, die dem Leser intime Einblicke in den Alltag der Ankömmlinge in der Neuen Welt garantiert.

Das uneingeschränkte Interesse der Verfasserin gilt jedoch der DDR-Germanistik und somit „dem Sturm auf die Festung Wissenschaft“ mit seinem Ehrgeiz und gleichzeitig als Einschränkung wirkenden personeller Misere. Der Leser besucht die Sitzungen vom „Literatursoziologischen Arbeitskreis“ im Jahre 1948 und durchwandert „mehrmonatige Intensivkurse“ in Weimar und Potsdam, die als Kaderschmiede fortschrittlicher Philologen konzipiert waren. Besondere Aufmerksamkeit erfahren jedoch mehrere undogmatisch denkende Außenseiter vom Marxismus mit Hans Mayer an der Spitze, die in der DDR nur zeitweise auf Akzeptanz der Zentralbehörden rechnen konnten. Prägnante Schilderung erfährt an der Stelle das im Ostblock einzigartige Phänomen des deutsch-deutschen Gelehrtentransfers, der als „Republikflucht“ die Lage an den Instituten in Jena, Berlin und Leipzig maßgeblich determinierte. Last but not least muss die facettenreiche Darstellung der Wissenschaftskonzepte von zwei Hauptfiguren der Abhandlung Erwähnung finden, der Kulturmorphologie von Theodor Frings sowie der geistesgeschichtlichen Methode von Hermann August Korff. Der Grad an Kontextualisierung der Entwicklungsgeschichte beider Herangehensweisen stellt das wissenschaftliche Können der Verfasserin unter Beweis. Die für verblüffend langes und stabiles Wirken zweier Ordinarien an der Leipziger Alma Mater, allen Zäsuren und Brüchen zum Trotz, verantwortlichen Faktoren, werden schließlich einer sachlichen Analyse unterzogen und den Lesern in einwandfreier Klarheit vor Augen geführt.

Die besprochene Abhandlung ist vor dem Hintergrund neuester Forschungsliteratur zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik als ein dezidiert innovativer Beitrag einzustufen, der in seiner Ausstrahlung tatsächlich weit über die Fachgrenzen hinaus in die Geisteswissenschaften gehen mag. Eingehende Auseinandersetzung mit marxistischer Literaturwissenschaft und ihrer diverser Umsetzungsmodelle in der DDR kann mitunter für Auslandsgermanisten aus ehemaligen Ostblockländern vom Interesse sein, die sich mit der Fachgeschichte der Deutschphilologie beschäftigen. Es ist mit Nachdruck zu betonen, dass es sich im Falle von „Räume des Möglichen“ um einen flüssig verfassten Text handelt, dessen Lektüre der immensen Materialfülle zum Trotz, keineswegs ermüdend wirkt und kleine Druckfehler ruhigen Gewissens vergessen lässt.