Wissenschaftsgeschichte in Porträts

Und die Sprachwissenschaft?

Die vielbesprochene “Krise” der Germanistik beruht weniger auf einem Defizit an Aufgaben und Perspektiven, sondern vielmehr auf einer weitverbreiteten Orientierungslosigkeit im Dickicht vielfältiger Projekte und Publikationen. Längst ist die Germanistik keine von Nationalphilologie und Nationalpädagogik geprägte “deutsche Wissenschaft” mehr, die Modernisierung des Faches hat zur Entnationalisierung und internationalen Vernetzung geführt. Die Germanistik hat aus guten Gründen mit vie­len Traditionen gebrochen, allerdings hat sie dabei zugleich auch den Begriff der Tradition aus der Fachgeschichte insgesamt verbannt. So ist ihr zwischen moderner Literatur- und Sprachwissenschaft, Medien- und Kommunikationsanalyse offenbar der Mittelpunkt abhanden gekommen. Das Fach droht auseinander zu brechen. Ein ge­meinsames Erkenntnisinteresse und eine gemeinsame Tradition scheinen zu fehlen.

Orientierung kann hier vor allem die Wissenschaftsgeschichte bieten. Sie kann “unser allgemeines Problembewußtsein vertiefen, sie kann die Herausbildung der gegen­wärtigen Differenzierung und Spezialisierung des Faches und seine aktuellen Krisen rekonstruieren und sie kann schließlich viele gegenwärtige Probleme kritisch ver­fremden und damit einer Beurteilung leichter zugänglich machen”. Ziel der Wissenschaftsgeschichte in Porträts ist es, eine nüchterne und kritische, eine aktuelle und anschauliche Skizze der Geschichte des Faches vorzulegen, einschließlich seiner pro­blematischen, nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie greift dazu 28 der “wich­tigsten Fachvertreter(innen)” heraus, aus der Zeit von den Anfängen bis etwa zur Wei­marer Republik. Deren Habilitation muß vor 1933 abgeschlossen sein. In den Porträts sollen die wichtigsten theoretischen, institutionellen und interdisziplinären Entwick­lungen aus der Geschichte der Geisteswissenschaften eingefangen werden. Die Gruppe der 28 bildet gewissermaßen die Spitze des germanistischen Eisbergs, dessen Ausmaße erst ein kompletter “Stammbaum der Germanistik” ermessen könnte. Jedem an der Germanistik Interessierten sind die Portraits wärmstens zu empfehlen. Jeder Beitrag gibt neue Hinweise, die sich zu einem neuen Bild der Germanistik zusammensetzen, das an Tiefe und Mehrdeutigkeit gewinnt. Die personenbezogene Darstellung ersetzt keine Strukturgeschichte, aber erst die Portraits erfüllt sie mit Leben. Be­leuchtet werden: Georg Friedrich Benecke, Jacob Grimm, Karl Lachmann, Karl Rosenkranz, Moriz Haupt, Karl Bartsch, Wilhelm Dilthey [!], Michael Bernays, Wilhelm Scherer, Hermann Paul, Erich Schmidt, Oskar Walzel, Andreas Heusler, Carl von Kraus, Friedrich Panzer, Friedrich Gundolf, Eduard Berend, Helmut de Boor, Käte Hamburger, Walter Muschg, Richard Alewyn, Benno von Wiese, Friedrich Beißner, Wolfgang Kayser, Emil Staiger, Wilhelm Emrich und Hugo Kuhn. Eine nachdenklich stimmende “Skizze” über “Außenseiter” des Faches rundet den Band ab.

Der Rezensent legt das Buch trotz seiner Begeisterung für das Konzept und die einzelnen Beiträge jedoch mit gemischten Gefühlen aus der Hand. Die Vorstellung, daß mit Hermann Paul nur ein einziger primär sprachwissenschaftlich ausgerichteter Germanist zu den “28 wichtigsten” zu zählen sei, scheint ihm befremdlich. Zumindest Wilhelm Braune, Theodor Sievers, Otto Behaghel oder Theodor Frings wären wohl ebenfalls zu nennen gewesen. Und Sigmund Feist ist bis heute geradezu der Prototyp des verdrängten und verfolgten Außenseiters geblieben. Die “Wissenschaftsgeschichte in Porträts” ist also eigentlich eher eine “Wissenschaftsgeschichte der Literatur­wissenschaft”. Das schmälert nicht ihren Wert, vermindert aber ihre Orientierungs­leistung für das gesamte Fach stärker, als es eigentlich nötig gewesen wäre.