Der Beginn des Untergangs
Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees

In den letzten Jahren hat sich die Forschung vermehrt den frühen Dokumentations- und Publikationsbemühungen zum Holocaust zugewandt – angefangen bei den Untergrundarchiven oder offiziellen Archiven in Gettos wie Warschau, Wilna, Białystok oder Lodz bis hin zu den zahlreichen, nach dem Krieg entstandenen Jüdischen Historischen Kommissionen in den befreiten Ländern Europas. Auch eine ganze Reihe der in diesen Kontexten entstandenen Publikationen sind wieder oder erstmals zugänglich gemacht worden. Das Buch von Miriam Schulz über die Arbeit des Wilnaer Komitees 1939/40 bereichert diesen Forschungstrend nicht nur erheblich, sie schließt eine große Lücke, indem sie das Bindeglied zwischen den Vorkriegsaktivitäten des Wilnaer YIVO-Instituts zu den Untergrundarchiven der Gettos entdeckt und dokumentiert hat.

Doch der Reihe nach: Nach dem deutschen Überfall auf Polen flohen viele Polen und Juden nach Osten, wo ab Mitte September die Rote Armee einmarschierte. Einige kehrten bald wieder zurück, viele jedoch blieben dort – so auch eine ganze Reihe jüdischer Schriftsteller und Journalisten. Sie gründeten im November 1939 das Komitet tsu zamlen materialn vegn yidishn khurbn in Poyln 1939 (Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939). Diese Gruppe machte sich daran, Berichte von jüdischen Flüchtlingen zu protokollieren und selbst Texte zu verfassen, um den Terror im deutsch besetzten Polen in den ersten Wochen und Monaten umfassend zu dokumentieren. Damit wollten sie die Welt aufrütteln und Material für Restitutions- und Entschädigungsforderungen nach dem Krieg bereithalten: „1/ The material gives the possibility to learn in detail what is the fate of the serveral millions of Polish Jews. 2/ It will be useful for the future historical searcher who will write the history of Jews in the present terrible period. 3/ The material may be used as a weapon in the fight against the oppressors and persecutors. 4/ It will be used as a foundation of the demands of the Jewish nation at the future peace-conference“ (S. 42), so umriss man dem Joint gegenüber zentrale Ziele. Damit schrieben die Beteiligten Vorkriegstraditionen fort, die sich in ähnlichen Bestrebungen angesichts zahlreicher Pogrome nach dem Ersten Weltkrieg formiert hatten oder (und vor allem) die sich in der Arbeit des YIVO niederschlugen. Eine „Geschichte vom Volk über das Volk für das Volk“ (S. 46) war das diesem allem zugrundeliegende Anliegen, das auch – mit zunehmend stärkerem Blick auf die Nachwelt – die späteren Chronisten in den Getto-Archiven antrieb. Sie alle folgten letztlich dem Aufruf Simon Dubnows, den er schon 1891 formuliert hatte: „Packt mit an beim Bauwerk der Geschichte! Nicht jeder Mensch mit normaler Schulbildung kann ein großer Schriftsteller oder Historiker sein, aber jeder von euch kann Dokumente sammeln und beim Aufbau unserer Geschichte helfen“ (S. 46).

Das war auch Kernanliegen des Wilnaer Komitees, dessen Unterlagen teilweise im Archiv der Wiener Library überliefert sind. Diese umfassen ca. 1000 Protokollseiten, 25 Berichte und sechs Bulletins und bilden die Grundlage für Schulz‘ beeindruckendes Buch. Die sechs Bulletins über die Anfangszeit der deutschen Terrorherrschaft sind vollständig in deutscher Übersetzung abgedruckt; die Originale sind auf der Verlagshomepage abrufbar.

Die Bulletins werden jeweils in wenigen Absätzen erläutert. Dem editorischen Teil geht die Studie von Miriam Schulz voran, in der sie die Arbeit des Komitet in die Traditionslinien jüdischer/jiddischer Geschichtsschreibung, in das Sammeln und Dokumentieren einordnet und sehr plausibel die Lücke zwischen der Vorkriegszeit und den Untergrundarchiven schließen kann. Schulz schildert fundiert und spannend die Entstehung und Geschichte des Komitets und zeigt immer wieder Desiderata und Forschungsperspektiven auf.

Das Spektrum der Bulletins reicht von der Darstellung des Terrors der Anfangszeit – Gewalt, Ausplünderung und immer wieder Morde – in Goworowo, Warschau oder Lodz. Das dritte Bulletin widmet sich dem für die ersten Wochen so wichtigen Thema „An den Grenzen“, „welches ein Meer aus Leiden und Blutvergießen, Beleidigungen und Erniedrigungen umfasst“ (S. 164) wie die Chronisten einleitend schreiben, bevor sie den Zeugen das Wort überlassen. Diese berichten schließlich davon, wie vielerorts in der Grenzregion im Osten Polens zwischen dem deutsch und dem sowjetisch besetzten Teil die ‚Gunst der Stunde‘ genutzt werden sollte, um möglichst viele Juden brutal zu vertreiben, bevor die Grenzen dicht sind. Dies traf zahlreiche grenznahen Gemeinden, vor allem diejenigen im Nordosten Polens, die an Ostpreußen angeschlossen werden sollten. Hier gingen mit den Vertreibungen mitunter brutale Massenmorde einher – Bulletin Nummer sechs schildert einen solchen Fall aus der Gemeinde Brok.

Miriam Schulz hat einen überaus lesenswerten und lehrreichen Band vorgelegt. Ihrem Buch liegt eine echte Entdeckung zugrunde, die eine wichtige Forschungslücke schließt und Perspektiven auf Quellen und Räume eröffnet, die bislang in der Forschung vernachlässigt wurden. Deutlich wird einmal mehr: Mit der ‚Entdeckung‘ der Opferperspektive, mit einer ‚integrierten‘ Geschichte des Holocaust hat die Forschung im Grunde genommen nicht zu neuen modernen Ansätzen, sondern vielmehr zu ihren Anfängen in Wilna und anderswo zurückgefunden. Es ist der Autorin für die vielen Impulse zu danken und es bleibt zu hoffen, dass diese aufgegriffen werden.