Einheitliche und einfache deutsche Orthografie
Die Geschichte einer (über)nationalen Idee 1870 bis 1970

Das Thema „Rechtschreibung“ ist nur scheinbar ein sprachwissenschaftliches, auch wenn es in mehreren linguistischen Teildisziplinen Platz findet. Ganz besonders zeichnet sich dieses Thema dadurch aus, dass es zu diskursanalytischen, politischen und historischen Zugängen einlädt.

Der Werdegang der germanistischen Linguistin Hiltraud Strunk erweckt zwar die Erwartung, dass in ihrem Buch „Einheitliche und einfache deutsche Orthografie“ die sprachwissenschaftlichen und vielleicht auch didaktischen Aspekte im Vordergrund stehen werden. Dies ist allerdings nicht der Fall, da diese zugunsten der historisch-dokumentarischen Perspektive in den Hintergrund treten. Das vorliegende Werk erfüllt damit genau, was der Untertitel verspricht: Es zeichnet die Entwicklung der deutschen Orthografie von 1870 bis 1970 nach. Damit ist es auch als willkommene Erweiterung ihrer Dissertation zu verstehen, in der sie die Entstehungsgeschichte der Stuttgarter und der Wiesbadener Empfehlungen näher beleuchtet. (Strunk, Hiltraud 1992: Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen. Entstehungsgeschichte und politisch-institutionelle Innenansichten gescheiterter Rechtschreibreformversuche von 1950 bis 1965. Frankfurt am Main: Lang) Anlass zu dieser Erweiterung war nicht zuletzt, dass nun – nach der Wiedervereinigung – die Akten des deutschen Reiches einsehbar sind. Auch wenn hundert Jahre für unser Empfinden eine sinnvolle Zeitspanne zu sein scheinen, wirft der dokumentarische Charakter des Buches doch die Frage auf, weshalb nicht auch das knappe halbe Jahrhundert von 1970 bis heute noch Teil der Darstellung wurde.

Die Struktur des Buches folgt dem Gedanken der chronologischen Dokumentation, wählt jedoch innerhalb der einzelnen Kapitel und Unterkapitel den sinnvollen Weg, die Etappen der Idee einer einheitlichen Rechtschreibung anhand der Akteure und ihrer Handlungen zugänglich zu machen. Zum besseren Verständnis des historischen Hintergrunds sind an den chronologisch angemessenen Stellen als „Biografische Notiz“ bezeichnete Exkurse eingefügt, die konzise und durchaus auch anekdotisch die Figuren wieder lebendig machen, die für das Rechtschreibgeschehen richtungsweisend waren. Auch Zeitzeugenberichte und Interviews mit Akteuren der Rechtschreibung tragen zum Gesamtbild bei, das die Autorin von den Entwicklungen der Regelungs- und Reformvorschläge zeichnet.

Die Arbeit mit und an den Sitzungsprotokollen, Zeitungsartikeln, Interviews und Zeitzeugenberichten wird akribisch ausgeführt und dokumentiert. So entsteht ein immer dichteres Netz an Information, das zu einem sehr informativen Leseerlebnis führt. Diese Vorgehensweise hat jedoch den Nachteil, dass alle Information gleichwertig scheint; es wird keine Fragestellung in einem engeren Sinne verfolgt, sondern eben synthetisierend dokumentiert, was die verschiedenen Quellen an Information bieten.

Insgesamt präsentiert die Autorin auf durchaus unterhaltsame Art einen kenntnisreichen und detaillierten Einblick in die Geschichte der Rechtschreibung, der eindrucksvoll aufzeigt, wie repetitiv und überraschend volatil gerade in diesem Bereich die wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Diskussion verläuft. Wer sich auf den verschlungenen Pfad der deutschen Rechtschreibung und ihrer Entwicklung begeben will, ist mit diesem Buch zum Einstieg gut beraten.