Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985)
Zeitgeschichtlicher Hintergrund und emotionales Erleben

In den Frankfurter Auschwitz-Prozessen von 1963 bis 1968 wurden mehrere hundert ehemalige Häftlinge des Konzentrations- und Vernichtungslagers als Zeugen vor Gericht gehört. Oftmals bedeutete für die überwiegend nicht in Deutschland lebenden Menschen schon die Reise in das Land der Täter eine große psychische und physische Anstrengung, die durch die Angst vor dem Prozess und der direkten Begegnung mit den Tätern häufig noch verstärkt wurde. Zudem glichen die Befragungen der Zeugen vor Gericht oft eher anklagenden und verhöhnenden Verhören, in denen die Wahrhaftigkeit der Aussagen vielfach angezweifelt und penibel hinterfragt wurde. Die Prozessordnung nahm wenig bis gar keine Rücksicht auf die Verfassung der traumatisierten – und durch den Prozess häufig retraumatisierten – Menschen. Unterstützung und Begleitung der Zeugen war weder institutionell vorgesehen, noch gab es ein öffentliches Bewusstsein für die schwierige Situation dieser Menschen.

Umso wichtiger ist es, die Arbeit und Rolle der ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen, die es sich seit den 1960er Jahren zum Ziel gesetzt hatten, Opferzeugen bei den Gerichtsverhandlungen gegen die nationalsozialistischen Täter zu begleiten, zu beleuchten und zu würdigen. Dies macht Merle Funkenberg in ihrer Studie, die als Dissertationsarbeit entstanden ist, anhand zahlreicher Quellen und Interviews. Sie beginnt ihre Dokumentation mit dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963, der zur „Geburtsstunde der Zeugenbetreuung“ (S. 48) wurde, der ersten unbürokratischen, ehrenamtlichen und privaten Zeugenbetreuungsinitiative.

Die Autorin weist bereits zu Anfang darauf hin, dass schriftliche Dokumentation, gerade aus den Anfängen der Zeugenbetreuung, selten und lückenhaft ist. So existieren keine statistischen Erhebungen darüber, wie viele Zeugen über die Jahre hinweg in den einzelnen Verfahren zu nationalsozialistischen Verbrechen aussagten, noch weniger verlässliche Daten darüber, wie viele davon durch Zeugenbetreuer begleitet wurden. Auch Berichte und Protokolle der Betreuer wurden vor allem in den Anfängen „aufgrund des spontanen und informellen Charakters der Zeugenbetreuung“ (S. 29) nur selten erstellt. Anhand von Interviews und den wenigen vorhandenen Dokumenten beschreibt Funkenberg daher die Rolle und Situation sowohl der Zeugen, die in den NS-Prozessen aussagten, als auch der ehrenamtlichen und größtenteils gänzlich unerfahrenen Zeugenbetreuer und ‑betreuerinnen. Im Fokus stehen dabei vorrangig die Letztgennanten, die vor allem aus der katholischen Friedensbewegung Pax Christi, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und dem Deutschen Roten Kreuz heraus aktiv wurden. Dabei kommt den Frankfurter Betreuern, allen voran den Freundinnen Ursula Wirth und Emmi Bonhoeffer, der Witwe von Klaus Bonhoeffer, hier eine Vorreiterrolle zu. Der Vizepräsident der Friedensbewegung Pax Christi Alfons Erb trug in der Folge maßgeblich zur Einrichtung bundesweiter Helferkreise, dem Austausch von Informationen und der Akquise von Geldern bei.

Den Kern der Arbeit bilden 18 narrativ-lebensgeschichtliche Interviews von Betreuern unterschiedlicher Helferkreise und Opferzeugen, die die Autorin selbst durchgeführt oder aus anderen Projekten (Alice von Plato und Dagi Knellessen „Zeugen im Auschwitz Prozess“) übernommen hat. Von der Autorin selbst wurden 2009 und 2010 elf Betreuer und drei Opferzeugen befragt. Anhand dieser Interviews arbeitet Funkenberg die wesentlichen Aufgaben der Opferbetreuer heraus. Vor allem ging es darum, die angereisten Zeugen am Bahnhof zu empfangen und sie für die Dauer ihres Aufenthaltes umfassend zu begleiten und zu betreuen. Auch während des Prozesses waren die Betreuer anwesend und leisteten moralischen Beistand. Da diese Form der Begleitung naturgemäß sehr zeitintensiv war, kamen dafür in erster Linie Hausfrauen oder Studenten in Frage. In vielen Fällen versorgten die Helfer die nach den Prozessen in ihre Heimatländer zurückgereisten Menschen zudem über das Prozessgeschehen hinaus mit Medikamenten, Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen. Funkenberg kommt zu dem Schluss, dass vor dem Hintergrund der für die ehemaligen Opfer extrem belastenden Situation die Opferbetreuer häufig zu Rettungsankern wurden und dabei in vielen Fällen enge und sogar lebenslange Bindungen entstanden.

Zusätzlich liefert die Autorin ausführliche Informationen und Hintergrundwissen zum historischen Kontext zur Zeugenbetreuung der 1950er bis 1980er Jahre, der Spezifik von Strafverfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher sowie der psychologischen Sicht auf die Spätfolgen von Konzentrationslagerhaft in den 1960er Jahren. Sie zeigt auf, wie häufig schlicht davon ausgegangen wurde, dass etwaige psychische Störungen aus der KZ-Haft, die mit übrigen Kriegserfahrungen gleichgesetzt wurden, nach dem Ende der ‚Belastungen‘ nachlassen und vergehen würden.

Einen kurzen und sehr allgemeinen Einblick bietet sie auch in die Repräsentation der Zeugen und Betreuer in Rundfunk, Printmedien und bei öffentlichen Auftritten. Hier legt sie dar, dass die Zeugen in den 1960er Jahren so gut wie keine Rolle spielten und nur von „geringer quantitativer Relevanz“ (S. 312) waren. Die Betreuung der Zeugen wurde in den 1960er Jahren medial schlicht gar nicht thematisiert. Erst im Zuge des Majdanek-Prozesses in den 1970er Jahren rückten zunächst die Zeugen zunehmend in den Fokus. Öffentliches Interesse an den individuellen Schicksalen der Opferzeugen und auch öffentliche Auftritte der Überlebenden nahmen dann seit der Ausstrahlung der amerikanischen Serie „Holocaust“ im deutschen Fernsehen 1979 stetig zu. Damit gerieten auch die Opferbetreuer erstmals in das Blickfeld öffentlicher Wahrnehmung.

Abschließend nimmt Funkenberg die aktuelle Situation der Zeugenbetreuung in den Blick und konstatiert, dass seit der Einrichtung der ersten offiziellen Zeugenbetreuungsstelle 1987 auf Initiative des hessischen Justizministeriums die Persönlichkeitsrechte der Opfer zwar erheblich gestärkt und mit den Opferrechtsreformgesetzen von 2004 und 2009 die Opferinteressen weiter geschützt worden seien. Es sei jedoch schwierig, eine genaue Anzahl der bundesweiten Betreuungsstellen oder auch nur statistische Aussagen über die betreuten Personen zu ermitteln. „Es existieren vielmehr differierende Modelle, die in unterschiedlichem Umfang und unter verschiedenen Namen die Betreuung von Zeugen (und Opferzeugen) im Strafverfahren anbieten. […] Es handelt sich bei der Zeugenbetreuung in der Bundesrepublik derzeit folglich weder um ein normativ geregeltes, noch ein im Allgemeinen in anderer Weise besonders reglementiertes Verfahren“ (S. 324).

Mit der vorliegenden Arbeit gibt die Autorin einen Einblick in einen bislang wenig beachteten und unerforschten Themenkomplex des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen nach 1945 in Deutschland. Auch wenn ihre Darstellung aufgrund der vielfach fehlenden schriftlichen Dokumentation der Zeugenbetreuung vor allem aus den 1960er und 1970er Jahren in Teilen unvollständig bleiben muss, überwiegt der Erkenntnisgewinn der Arbeit diese Leerstellen deutlich. Die lückenhafte Dokumentation führt etwa zu Unsicherheiten bezüglich der konkreten Anzahl der betreuten Zeugen sowie der Zeugenbetreuer. In der vergleichsweise geringen und damit quantitativ nicht repräsentativen Zahl der durchgeführten Interviews wird die Betreuungsarbeit zudem stellenweise rückblickend etwas „merkwürdig naiv und idealisierend“ (S. 299) dargestellt, wie Funkenbergs selbst problematisiert. Die Tätigkeit und die Erfahrung der Zeugenbetreuer haben jedoch, so wird dank Funkenbergs Beitrag überzeugend deutlich, wohl einen nicht unerheblichen Beitrag zur Entwicklung des Opferschutzes und der Viktimologie in Deutschland beigetragen und diese Pionierarbeit der Zeugenbetreuer verdient eine deutliche Würdigung in Wissenschaft und Öffentlichkeit.