Deutschmährische Literatur
GERMANOSLAVICA. Zeitschrift für germano-slawische Studien 2013/2

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

 

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

 

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.

(R. M. Rilke, Gebete der Mädchen zu Maria, www.rilke.de)

 

Im Jahre 2013 erschien die Nummer der Germanoslavica „Deutschmährische Literatur“. Bei dieser thematischen Nummer, die gewissermaßen an die Peter-Härtling-Nummer von 2012 (Heft 2/2012, 23. Jahrgang) anknüpft, geht es auch um eine bilanzierende Vorstellung der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur der Olmützer Germanistik (Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität in Olomouc), welche im Jahre 2013 ihren 15. Geburtstag feierte. Die Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur braucht hier nicht extra vorgestellt zu werden, umso mehr wird die Aufmerksamkeit folgender Frage gewidmet. 15 Jahre sind eine lange Zeit. Bei einer wissenschaftlichen Institution erwartet man bereits Resultate der Arbeit, im konkreten nicht nur heuristische, sondern auch hermeneutische Ansätze im Sinne von neuen Auffassungen bestimmter Probleme. Das Vorwort von Helena Ulbrechtová, Lukáš Motyčka und Siegfried Ulbrecht verspricht in diesem Sinne eine gewisse Spannung, indem es die deutschmährische Literatur als eine Grenzraumliteratur sieht, wo es zu Kontakten (und Konflikten) unterschiedlicher Art kam, vor allem aber zu Begegnungen zwischen dem deutschsprachigen und tschechischsprachigen Element. Nach dem Vorwort sind 8 Studien zu finden, vor allem zu Themen, mit denen sich die hier publizierenden Arbeitsstellen- und Lehrstuhlmitglieder langfristig beschäftigten.

Die einleitende Studie ist „Gegen den Strich lesen: Moses bei Schiller, Goethe und Reckendorf“ vonIngeborg Fiala-Fürst, wobei das Motiv der alttestamentarischen Figur Moses vor allem bei dem Iglauer Autor Hermann Reckendorf vorkommt. Gezeigt wird, wie der mährisch-jüdische Autor mit dem großen Thema umging, welche Rolle der Zeitgeist gespielt hat und welche Parallelen zu finden sind.

Der theoretisch orientierte Aufsatz von Milan Horňáček („Mitteleuropa als ein ,lebendiger Organismus‘. Viktor Bauers Zivilisationskritik im Kontext der Mitteleuropa-Konzeptionen“) behandelt das Thema Mitteleuropa, auch im Sinne eines historisch und politisch relevanten Themas. Auch hier wird eine Person hervorgehoben, konkret der Theoretiker Viktor Bauer.

Andere AutorInnen der Nummer gehen gleich in medias res, so Katja Kernjak, die sich der Korrespondenz zwischen Friedrich Torberg und dem Paar Hugo und Bibi Haas („Píšu Ti sice málo, ale často na Tebe myslím“) widmet, wobei bisher unbekannte Facetten der Künstlerfreundschaft auf diese Art und Weise entdeckt werden.

Jörg Krappmann stellt in seinem Beitrag„Intrakulturelle Verwerfungen in der Provinz. Theater- und Vereinsleben in Mährisch Schönberg“das Theater und das Vereinsleben einer mährischen Stadt vor. Konkret wird gezeigt, was die kleinstädtische Kultur (konkret in Nordmähren) bewog und wie stark die Bindungen zum deutschen Sprachraum gewesen sind. Krappmann zeigt auch, wie die Kontakte zum Zentrum Prag sich realisierten und ob und wie der tschechische und deutsche Nationalismus sich auch im Vereinsleben zeigten.

Das Drama steht im Mittelpunkt des Beitrags von Marie Krappmann („Zwischen Herd und Wissenschaft, zwischen Skalpell und Betstuhl“). Die drei Dramen „Die Starken“, „Übergangsmenschen“ und „Der Schöpfer“ der mährischen Autoren Karl Hans Strobl, Ernst Lohwag und Hans Müller schildern gesellschaftliche Probleme. Ihre Aktualität hält z. T. bis heute an, so etwa die Position der Frau und ihre Gleichberechtigung. Obwohl sich Marie Krappmann explizit nicht auf die Gender-Literatur stützt, wären diese Dramen auch sehr gut unter feministischen theoretischen Aspekten zu lesen.

Alžběta Peštová stellt in ihrem Beitrag („Mittelachsenlyrik. Die Rezeption von Arno Holz in Böhmen und Mähren“) die mährische Reflexion der Lyrik von Arno Holz dar, wobei deutliche Parallelen zwischen Holz („Phantasus“) und dem Brünner Schriftsteller Eugen Schick zu finden sind („Empfindsames Notierbüchlein“, 1905).

Karsten Rinas widmet sich in seiner Studie „Zur kulturhistorischen Einordnung von Mechthilde Lichnowskys Sprachkritik“ dem sprachkritischen Werk Mechthilde Lichnowskys („Worte über Wörter“, 1949). Dabei knüpft er u. a. an Anne Martina Emonts (Mechthilde Lichnowsky. Sprachlust und Sprachkritik, Würzburg, 2009) und Iveta Rucková-Zlá (Das Adelhaus der Lichnowskys: eine kulturelle Kontinuität, Ostrava 2007) an. Rinas ordnet Lichnowskys „Worte über Wörter“ in den Kontext der damaligen Zeit und der Vergangenheit (u. a. in Bezug auf Lichnowskys Freund Karl Kraus) und geht dabei von Kriterien philosophischer Sprachkritik wie auch der Sprachpflege aus. Obwohl für Rinas etwa Lichnowskys „Der Stimmer“ ein „hochinteressantes Werk der Moderne“ darstellt, sieht er in „Worte über Wörter“ lediglich eine „Glossensammlung von bestenfalls durchschnittlicher Qualität“.

Die letzte Studie von Sabine Voda Eschgfäller („,Franzl im Occupationsgebiet‘ – Anmerkungen zu Bosnien-Herzegowina aus der Sicht eines ,mährischen Schriftstellers‘“) greift das Thema Mitteleuropa in Verbindung mit dem Balkanraum auf. Konkret behandelt sie den wenig bekannten Autor Emanuel Hans Sax (1847–1897) und seine Reflexionen einer Balkanreise.

Den Studien folgen die Seiten 122f. mit dem Text von Lukáš Motyčka und Ingeborg Fiala-Fürst, der die hier schon erwähnte Arbeitsstelle vorstellt. Meiner Meinung nach wäre eine Platzierung hinter das Vorwort besser gewesen. Ins Auge sticht auch eine andere Formatierungs- und Zitierweise, als das bei den Studien der Fall ist.

Zum vorliegenden Heft lässt sich folgendes sagen: Alle hier versammelten Studien zeichnen sich durch eine hohe Qualität aus und werden sicherlich weiteren Forschern bei deren Forschung an verschiedenen Teilthemen von Nutzen sein. Schade nur, dass eine allzu große Buntheit beim Inhalt der Studien herrscht, so dass das monothematische Heft doch polythematisch wurde und bisweilen durch seine Buntheit eher an Konferenzpublikationen erinnert. Schade auch, dass den Beiträgen nicht eine Studie vorausgeht, die die Kulturlandschaft Mähren näher vorstellt (bereits in seinen Anfängen und dann über die „Klassiker“ Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach und darüber hinaus usw.) und diese Kulturlandschaft dann nicht mit dem (nicht nur) bei Milan Horňáček fundiert behandelten Konzept Mitteleuropas verbunden hat. Das Thema Mitteleuropa ist insofern für die gesamte nicht-tschechisch geschriebene Literatur auf dem Gebiet Böhmens, Mährens und Schlesiens von großer Bedeutung; es handelt sich dabei um einen größeren Raum, als der Raum einer Region, in dem sich die Mährische Literatur als eine Regionalliteratur oft behaftet sieht. Schade auch, dass, wie es die Einleitung verspricht, nicht näher auf Konflikte und Kontakte mit der tschechischen Kultur eingegangen wurde.

Vielleicht wurde aber die Nummer absichtlich als eine Art Mosaik konzipiert, wo dann das Kulturland Mähren als ein facettenreiches Land auftritt, ein – sagen wir mit Lessing – Kristall, dessen Facetten stets neu zu entdecken sind und wo ein explizites „Menschen Wort“ (vgl. das Motto dieser Rezension) eigentlich zunächst nicht notwendig ist.

15 Jahre ist die Zeit, wo ein Mensch langsam groß wird, aber noch nicht alt ist. Ich glaube, dass auch die Arbeitsstelle noch eine interessante wissenschaftliche Zeit vor sich hat. In den vergangenen 15 Jahren hat sie viel geleistet. Wichtig wäre allerdings, dass nun eine Entwicklung und ein weiterer Weg von der Heuristik hin zur Hermeneutik einsetzen. Vielversprechende Ansätze sind in diesem Themenheft erkennbar.