Historische Bevölkerungsforschungen
Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert

Vorliegende Studie analysiert die Entwicklung der Purifizierung, einer Läuterung der multidisziplinären Bevölkerungsforschung; sie verfährt als Perlustrierung insbesondere der Geschichtswissenschaft.

Der Autor hebt an mit den 20er Jahren, als die „deutschen ‚Ost- und Volksforschungen‘ entwickelt und praktiziert wurden“ (S. 18), die sich keineswegs nur auf „historische Statistik des Bevölkerungsstands und der Bevölkerungsbewegung“ beschränkten (S. 14). Dabei bedient er sich methodisch der „Diskursanalyse und der sozialen Netzwerkanalyse“ (S. 22). Seine Absicht ist so diffizil umzusetzen wie sein Untersuchungsgegenstand ‚heillos‘ vermengt: „Völkisches Ordnungsdenken und unterschiedlich gewichtete Bezugnahmen auf das methodische Reservoir von ‚Statistik‘, ‚Demographie‘, ‚Genealogie‘ und ‚Bevölkerungsbiologie‘“ sind in seinen historiographischen Belegstellen „untrennbar miteinander verwoben“ (S. 46).

In den frühen 30er Jahren erlebte diese Forschung ihr ‚Take-off‘ (vgl. S. 293): Diese setzte „nicht die ‚Gesellschaft‘, sondern ‚Bevölkerung‘“ als „bestimmende Kraft des sozialen Lebens“ (S. 232) ins Zentrum, „vor allem mit [...] Denkmustern sozialer und ethnischer Differenz verknüpft“ (S. 107). Liberalere Auffassungen wurden „zusehends zurückgedrängt“, sodass sich die Allianz von bevölkerungspolitisierenden Historikern und der NS-Diktatur so üppig gestaltete wie „weder vorher und nachher“ (S. 108). Von ihren namhaften Vertretern werden jeweilige Bekenntnisse zur NS-Ideologie, NSDAP-Mitgliedschaften offen gelegt. Unter diesen finden sich auffällig häufig sogenannte ‚Grenzlanddeutsche‘ (zu Polen und Tschechen), wie Erich Keyser aus Danzig/Gdańsk, aber auch gebürtige Altösterreicher wie Hermann Aubin aus Reichenberg/Liberec und Walter Kuhn aus Bielitz-Biala/Bielsko-Biała. Letztere arbeiteten dem Deutschland der Weimarer Republik und dem Dritten Reich zu, während die Historik des zwischenkriegszeitlichen Österreich sich weniger dem ‚Volk‘ als dem ‚Reich‘ und ‚Staat‘, in „leidenschaftlicher Nähe zum mittelalterlichen Reichsgedanken“ (S. 176), widmete.

Schon frühere „Forschung legte die teils aktivistische Selbstmobilisierung von Historikern für das ‚Dritte Reich‘ frei“ (S. 111); fungierten diese doch auch als Lieferanten von „‚gesünderen Ziffern‘“ für ‚Volkszählungen‘ (S. 110). – Die letztlich offene Kardinalfrage, wer wessen Erfüllungsgehilfe darstellt, wer wen instrumentalisierte, wird dabei diskutiert.

Eine vom Autor ausgemachte sinistre Gesellschaft von in die NS-Ideologie verstrickten Historikern, nach 1945 u. a. als „‚Malkontenten‘“ (S. 248) bezeichnet, verbreitete in der frühen Bundesrepublik, als ‚Landesgeschichte‘ oder ‚Ostforschung‘, „noch in den 1950er Jahren überwiegend Residuen modifiziert ethnozentrischer Forschungspraktiken, die sich erst im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre abzuschwächen begannen“ (S. 410). – Diese ‚Abschwächung‘ soll mithilfe der „Darstellung der synchronen Lagerung und Abfolge von Alterskohorten“ (S. 280) dieser Wissenschaftler plausibel gemacht werden. – Als Konsequenz einer Kontaminierung der ‚Bevölkerungsforschung‘ mit ‚völkischen Denkmustern‘, konstatiert der Autor eine bis in die 1960er Jahre währende „internationale Isolierung der deutschen (und österreichischen) Historiographie“ (S. 411). – Mitte der 70er Jahre wandte sich die stark sozialgeschichtliche Historik in Österreich „endgültig von der Identifikation ‚historischer Bevölkerungsforschungen‘ mit dem ‚Deutschtum‘ ab“ (S. 183).

Seit den 20er Jahren hatte sich die multidisziplinäre Forschungsarbeit zur ‚Bevölkerung‘ mit vielen ihrer Vertreter theoretisch wie praktisch auf vorgeblich erhobene ‚Gegebenheiten‘ gestützt, die oftmals bloß virtuell waren.

Die Analyse stellt eine fällige Sichtung der deutschsprachigen ‚Bevölkerungsforschung‘ dar. Und zwar im Lichte einer schon länger bestehenden völligen Abkehr davon, bestimmte Räume für bestimmte Menschen zur deren Bestimmung zu machen, und sie deshalb für diese, allein und exklusiv, zu bestimmen. Entsprechend geht der Autor in seinen Beweisführungen mit beinahe puritanisch zu nennender Genauigkeit vor.