Nach dem Untergang
Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission

„Ich glaube selbst nicht, das zu erleben, was ich erlebt habe.“ Diesen Satz formulierte der 17Jährige Berek Freiberg, nachdem er in Sobibór Kleider sortieren, Frauen vor der Vergasung Haare scheren oder Leichen schleppen musste. Durch seine aktive Teilnahme am Aufstand in Sobibóram 14. Oktober 1943 überlebte er das Vernichtungslager und berichtete 1945 von seinen Erlebnissen.

Der 2014 von Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebene Band „Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission“ präsentiert zwölf ausgewählte Berichte aus dem von der Kommission gesammelten Konvolut. Einleitend stellt Benz differenziert die Arbeit und das literarische Erbe der jüdischen historischen Kommission dar, Beer gibt einen Überblick über die umfangreiche Sammlung der Zeugnisse.

Die publizierten Berichtezeigen die Vielschichtigkeit der Erfahrungen und Erinnerungen.Einige Autoren, Mitgliederder Kommission und somit Historiker oder Lehrer (wie Filip Friedman, Szymon Datner oder Rachel Auerbach) bemühen sich um eine frühe Analyse, Andere berichteten als Jugendliche oder Erwachsene den Mitarbeitern der Kommission das Erlebte. Sie alle verbindet die Erfahrungdes systematischen Massenmords, der um sie herum praktiziert wurde. Dessen zeitliche Nähe spiegelt sich in der Unmittelbarkeit des Erzählens. Neben der Perfektionierung der Mordindustrie – Auerbach spricht von einer „Wissenschaft der Vernichtung“im Vernichtungslager Treblinka, in der etwa die Brennfähigkeit von Menschen, Männern, Frauen, Jugendlichen oder Alten, untersucht wurde (417) – werden die Brutalität und Grausamkeit einzelner prominenter wie auch ganz normaler Deutscher beschrieben: ausgeklügelte Formen von Erniedrigung, Sexualisierung von Gewalt, Gewaltexzesse, Schläge und Folter fehlen in kaum einem der Berichte.

Beim Lesen der Berichte von verschiedenen Orten der Vernichtung – Vernichtungslager, Ghetto oder Zwangsarbeitslager – erkennen wir die auf das Ziel, die Vernichtunghinauslaufende Systematik, doch auch die unterschiedliche Dynamik an den jeweiligen Orten des Terrors. Lejb Zylberberg berichtet aus dem Shtelekh Klimontów in der Wojewodschaft Kielce, in dem der jüdische Bevölkerungsanteil bei 75 Prozent lag und wo bis April 1942gar kein Ghettoexistierte. Am 3. September hatten deutsche Gendarmen erneut Gassen für ein Ghetto ausgemessen und Juden durften den Markt nicht mehr betreten: „An einem Samstag kam ein Warschauer Mädchen angelaufen und erzählte von den dortigen Deportationen, aber die Menschen glaubten ihr nicht.“ (504) Auch in Klimontów beherrschten Brutalität und Mord den Alltag, es gab jedoch noch keinenMassenmord, derim Warschauer Ghetto mit den Deportationen am 22. Juli 1942 begonnen hatte. Auch dorthattenAktivisten den Emissären der Widerstandsbewegung aus dem Wilnaer Ghetto, die Anfang 1942 vom systematischen Massenmord in Ponar berichteten und von der Absicht der Deutschen die jüdische Bevölkerungglobal zu vernichten, nicht glauben wollen.

Michal Maksymilian Borwicz beschreibt die Situation im Janowska-Lager bei Lemberg: „Bei Häftlingen bildet sich ein Bewusstsein vom allernächsten Schicksal selten auf logischem Wege. Die Logik baut gewöhnlich auf exakt beschriebenen Grundannahmen und menschlichen Begriffen auf. Im Lager versagten alle Grundannahmen und die Ereignisse entwickelten sich nicht in menschlicher Weise.“ (114) In dieser Welt der Nicht-Kalkulierbarkeit und des Systems des „divide et impera“ schweigen die Berichtenden nicht über Korruption und Verrat auf der Seite der von den Deutschen zum Tode Verurteilten. Borwicz erinnert sich an Fälle von Verrat beim Waffenkauf und Mendel Balberyszki verurteilt in seinem Bericht über die letzten Tage des Wilnaer Ghettos das Verhalten einiger jüdischer Funktionsträger hart. Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit prägten das Verhalten. Rózá Bauminger schildert die todbringende Arbeit im Zwangsarbeitslager Skarżysko-Kamienna, in dem Frauen Granaten und Pikrinsäure herzustellen hatten, und die Situation in den Hallen, wo die Frauen vom Kontakt mit der Säure gelb geworden waren. „Bei der Pikrinsäure durfte man nicht erkranken. Wenn jemand während der Arbeit ohnmächtig wurde oder umfiel, beugte sich niemand nieder, weil man die Normerfüllung nicht unterbrechen durfte. Bei der leichteren Arbeit herrschte mehr Solidarität.“ (187)

Dass es dennoch an allen Orten auch Zusammenhalt, Solidarität und Widerstand gab und kleinste Freiräume zu nutzen gesucht wurden, auch davon zeugen die Beschreibungen: Fluchten und Fluchtversuche überall, Organisierung bewaffneter Gruppen oder Waffenkäufe in Lemberg, im Janowska-Lager, in Białystok, die „illegale“ Versorgung der aus Deportationszügen Geflohenen, der „Springer“ in Żółkiew, Sabotage im Munitionszwangsarbeitslager in Skarżysko-Kamienna, der Aufstand im Warschauer Ghetto. Der 17-jährige Berek Freiberg schreibt über seine Gedanken zum Aufstand in Sobibór: „Wir wollten uns etwas ausdenken, dass wir zwar umkommen, aber sie auch, und es sollten sich ein paar retten, damit die Welt davon erfuhr.“ (633)

Auch 70 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstören diese Texte: Ihre Unmittelbarkeit, aus der sowohl der Schock wie Emotionen von Verzweiflung, Zornund Hass auf die Peiniger und Mörder sprechen, die in späteren Erinnerungen häufig unterdrückt sind, sowohl das sensible und komplizierte Suchen nach Hoffnungsfunken wie auchdie tiefste Verzweiflung. Für kommende Projekte dieser Art wäre allerdings eine sorgfältigere, genauereund systematische Kommentierung der einzelnen Texte zu wünschen.