Verschüttete Literatur
Die deutschsprachige Literatur auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1800 bis 1945

Die Geschichte des Sprachkontakts zwischen dem Deutschen und den slavischen Sprachen des südöstlichen Europas reicht bis ins Mittelalter zurück. Seit dem Zeitalter der Aufklärung und bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts war die deutsche Sprache in der Krain, im späteren Slowenien, in Kroatien mit Dalmatien und Slawonien, an der sogenannten Militärgrenze und bis nach Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien zudem ein wesentliches Medium kultureller Entwicklung. Davon zeugt nicht zuletzt eine lange Liste auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens erschienener deutschsprachiger Zeitungen, etwa in Laibach/Ljubljana ab 1707, in Agram/Zagreb ab 1786, in Neusatz/Novi Sad ab 1857 oder in Sarajevo zuerst 1878, dann kontinuierlich ab 1884. Sie werden in einem Forschungsprojekt am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg derzeit erfasst und beschrieben. Aus diesen Landschaften, in der sich bürgerlich-aristokratische, christlich-jüdische, städtische und bäuerliche sowie deutsch und slavisch geprägte Lebenswelten in den verschiedensten Zusammensetzungen begegneten, stammen aber auch eine Reihe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren Werke nach 1945 „verschüttet“ wurden und weithin in Vergessenheit gerieten. Mirjana Stančić kommt das große Verdienst zu, viele dieser Autoren und ihre Bedeutung wieder ans Licht geholt zu haben. Anastasius Grün (Graf von Auersperg) und Roda Roda sind vielleicht die namhaftesten Köpfe dieser Literaturlandschaft. Aber daneben findet sich eine bunte Palette literarischer Strömungen, die sich in ihrer multiethnischen Umgebung ganz anders entwickeln, als „zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt“. Die Verfasserin erschließt diese Literaturlandschaft nun erstmals im Zusammenhang und erläutert die Voraussetzungen ihrer Entstehung und die Gründe ihres Verschwindens aus dem kulturellen Gedächtnis zumindest der Germanistik. Ob es sich im einzelnen aus heutiger Sicht um Autoren ersten oder nur zweiten Ranges handelt, ist dabei von untergeordneter Bedeutung, denn es geht in kulturgeschichtlicher Perspektive um den Raum als sprachliche und literarische Landschaft insgesamt.

Unter den Stichworten „Entfaltung und Blüte“ für das lange 19. Jahrhundert und „Spätglanz und Ende“ für das kurze 20. Jahrhundert der deutschen Literatur im ehemaligen Jugoslawien werden Zentren, Personen und Konstellationen der Literaturgeschichte beschrieben. Kurzbiographien von 102 Autorinnen und Autoren mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschungsliteratur beschließen den Band.

Eine ganze Reihe der bei Mirjana Stančić Genannten haben auch in den regionalen deutschsprachigen Tageszeitungen literarische und journalistische Texte veröffentlicht, also zugleich auch unmittelbar selbst etwas zur Verbreitung ihrer Texte und zur Bildung einer literarischen Öffentlichkeit beigetragen. Viele Autoren schreiben in mehr als nur einer Sprache. Hingewiesen sei, gegliedert nach Regionen, auf:

Für Slowenien:

France Prešeren (*1800 in Vrba/Krain; †1849 in Krainburg): Jurist und Schriftsteller. Der „slowenische Nationaldichter“ veröffentlichte Gedichte in deutscher Sprache im Illyrischen Blatt, der Literaturbeilage zur Laibacher Zeitung [Staničić: 309].

Peter Paul von Radics (*1836 in Adelsberg/Postojna; †1912 in Laibach/Ljubljana): Historiker, Schriftsteller und Journalist. Redakteur der Laibacher Zeitung 1880-1884, auch der Agramer Zeitung 1864 [Staničić: 310].

Edward Samhaber (*1846 in Freistadt; †1927 in Linz): Literaturhistoriker, Schriftsteller und Lehrer. Gedichte und Dramen. Beiträge im Laibacher Wochenblatt, dem Fortsetzer der Lai­bacher Zeitung 1885 [Staničić: 150, 313].

Johann Gabriel Seidl (*1804 in Wien; †1875 in Wien): Jurist, Gymnasiallehrer in Cilli, Staatsbeamter, Schriftsteller. Textdichter der österreichischen Kaiserhymne; er veröffentlichte im Illyrischen Blatt, der Literaturbeilage zur Laibacher Zeitung. Ein ausführlicher Nachruf erschien in der Cillier Zeitung vom 3. Mai 1877 [Staničić: 314f.].

Für Kroatien:

Zofka Kveder, Pseud. Dimitrije Gvozdanović (*1878 in Ljubljana; †1926 in Zagreb): Journa­listin und Schriftstellerin. Erzählungen und Romane in slowenischer und kroatischer Sprache, journalistische Texte in der Agramer Zeitung und im Agramer Tagblatt sowie in der Prager Politik [Staničić: 300].

Petar von Preradović d.Ä. (*1818 in Grabrovnica, Kroatien; †1872 in Fahrafeld, Niederöster­reich): Offizier und Schriftsteller, ab 1844 überwiegend in kroatischer Sprache. Mitarbeiter der Luna, der Literaturbeilage der Mitarbeiter der Agramer Zeitung. Erstveröffentlichung von zwei deutschen Gedichten aus dem Nachlass am 30. Juni 1886 im Agramer Tagblatt [Staničić: 114, 308].

Petar Preradović (*1892 in Wien; †1941 in Zagreb): Journalist und Schriftsteller, Enkel von Petar von Preradović d.Ä., Lyriker und Dramatiker, mit erfolgreich am Burgtheater aufge­führten Stücken, ab 1918 Redakteur des Agramer Morgenblatts [Staničić: 308f.].

Peter Paul von Radics (*1836 in Adelsberg/Postojna; †1912in Laibach/Ljubljana): Historiker, Schriftsteller und Journalist. Redakteur der Agramer Zeitung 1864, auch der Laibacher Zeitung 1880-1884 [Staničić: 310].

Alexander Roda Roda (*1872 in Drnowitz, Mähren als Sándor Friedrich Rosenfeld; †1945 in New York). Schriftsteller. Romane und Erzählungen; ab 1900 Texte für den Simplicissimus. Beiträge in der Slavonischen Presse, auch dem Agramer Tagblatt, dem Pester Lloyd, der Neu­en Freien Presse [Staničić: 311].

Wilma von Vukelich (*1880 in Essegg; †1956 in Zagreb): Schriftstellerin. Romane und Er­zählungen, u.a. „Die Heimatlosen“, Wien 1923. 1897 Veröffentlichung ihrer ersten Texte in Die Drau, dort 1915 Übersetzungen von Milan Begović ins Deutsche[Staničić: 320f.].

Für Serbien:

Bruno Kremling (*1889 in Weißkirchen/Banat; †1962 in Heidelberg): Offizier, Schriftsteller. Gedichte. Kulturredakteur beim Deutschen Volksblatt, Novi Sad. Er wurde er in Jugoslawien als einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit wahrgenommen [Staničić: 256, 299f.].

Karl von Möller (*1867 in Wien; †1843 in Hatzfeld/Banat): Schriftsteller, Abgeordneter der „Deutschen Volkspartei“ im Banat, Chefredakteur der Banater deutschen Zeitung, Temesch­war; einer der populärste Autor historischer Romane seiner Zeit, allerdings mit nationalisti­schem und gelegentlich antisemitischem Einschlag. Sein Roman „Die Werschetzer Tat“ er­schien zuerst bei Kremling im Deutschen Volksblatt als Fortsetzungsroman [Staničić: 255, 304f.].

Nicht bei Mirjana Stančić erwähnt – was vertretbar ist –, aber durch seine Tätigkeit 1916/17 als Leiter der Belgrader Nachrichten ebenfalls mit dem Raum verbunden, ist der Schriftsteller Robert Müller (*1887 in Wien; †1924 ebd.): Schriftsteller, Journalist und Verleger. Romane und Erzählungen. Ab 1912 Mitarbeiter verschiedener expressionistischer Zeitschriften, u.a. Der Ruf, Der Brenner. Während des Ersten Weltkrieges 1916/17 als Kriegsfreiwilliger – zusammen mit dem österreichischen Schriftsteller Hugo Greinz – Leiter der Belgrader Nachrichten. Ab 1921 Mitarbeiter der Prager Presse [Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 6, Wien 1975, S. 426].

Für Bosnien:

Milena Mrazović-Preindlsberger von Preindlsberg (*1863 in Bjelovar, Kroatien; †1927 in Wien): Schriftstellerin und Journalistin. Sachbücher zur Kulturgeschichte Bosniens, Bos­nische Volksmärchen. Ab 1884 Redakteurin bei der Bosnischen Post, ab 1886 Miteigentü­merin, von 1889 bis 1896 Alleineigentümerin. Sie lebte von 1878 bis 1918 in Bosnien [Staničić: 124f., 305].

Wenn die Erzählung „Der Pfennig mit dem Auge“ tatsächlich, wie Mirjana Staničić ohne weiteren Kommentar annimmt (S. 146), vom galizischen Schriftsteller Bruno Schulz stammt, dann handelt es sich um einen wohl in der Forschung bisher sonst nicht beachteten frühen deutschsprachigen Text des später nur polnisch schreibenden galizischen Dichters. Schulz hat 1916/17 in Wien studiert, die Veröffentlichung einer Erzählung in der Sonntags-Literatur-Beilage der österreichischen Cetinjer Zeitung wäre also durchaus denkbar. Diese Cetinjer Zeitung ist die einzige deutschsprachige Zeitung auf dem Gebiet des heutigen Montenegros. Herausgegeben wurde sie vom K.u.K. Militär-Generalgouvernement zwischen August 1916 und Oktober 1918 während der Besetzung Montenegros durch die österreichisch ungarische Armee. Über die Zeitungund ihre seit Ende 1916 wöchentlich erscheinende ambitionierte Sonntagsbeilage ist bisher wenig bekannt. Bei dem als Redakteur geführten Gottlieb Hinko handelt es sich möglicherweise um den Autor Gottlieb Hinko (*1886 in Österreich-Ungarn – †1948 in Israel) des Romans „Kljuc od veilikih vrate“ (1947), der in englischer Übersetzung als „The Key to the Great Gate“ noch erhältlich ist:

(http://www.sf-encyclopedia.com/entry/gottlieb_hinko).

Auf zwei weitere deutschsprachige Autorinnen aus Slowenien, die im Sinne der „verschütteten Literatur“ in der Sammlung von Mirjana Stančić noch fehlen, sei hier kurz hingewiesen:

Alma Maximiliane Karlin (*1889 in Cilli/Celje; †1950 in Pečovnik bei Štore): Journalistin, Weltreisende und Schriftstellerin. Reiseberichte und Romane, für „Windlichter des Todes“, Leipzig 1933 für den Nobelpreis nominiert. Reiseberichte in der Cillier Zeitung [Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 3, Wien 1965, S. 241f.].

Anna Wambrechtsamer (*1897 in Planina, heute: Planina pri Sevnici bei Celje; †1933 in Graz): Schriftstellerin. Erzählungen und ein historischer Roman, „Heut Grafen von Cilly und nimmermehr“, Graz 1933, der erst nach ihrem Tode veröffentlicht wurde. Der Text zeigt unter der Oberfläche eine deutliche Ablehnung von Antisemitismus und nationalsozialistischer Expansionspolitik. In der die Cillier Zeitung erschienen zudem mehr als 30 Aufsätze und Erzählungen.

Mirjana Stančić, aber auch dem Verlag, ist für die Bergung dieses verschütteten literarischen Kontinents sehr zu danken.