Der Patagonische Hase
Erinnerungen

Man kann auf unterschiedliche Art und Weise eine Autobiografie bzw. Erinnerungen schreiben: chronologisch ' das ist am einfachsten, kann aber langweilen; assoziativ ' das ist am faszinierendsten, kann aber verwirren, wenn der 'rote Faden' des Geschehens außer Sicht gerät oder aber 'sprunghaft', willkürlich anmutet; nach Themen geordnet ' das ist am schwersten, denn ein Menschenleben bedeutet meistens die Variation nur eines bestimmten Lebensthemas. Die Autobiografie Claude Lanzmanns ist ein Zwitter der letzten beiden Vorgehensweisen. Das bedeutet hier aber auch, dass die Addition der Teile bedeutsamer ist, als die Summe des Ganzen: eine Stärke, aber auch entscheidende Schwäche dieses Textes. Zu sehr ist das Ganze von spontan einfallenden Eindrücken bestimmt. Was fehlt ist die Stringenz. Bisweilen merkt man diesem Text auf sehr ärgerliche Weise an, dass er diktiert wurde. Verlor der Autor bisweilen die Übersicht?

Claude Lanzmann ist einem deutschen Publikum bekannt durch seinen epochemachenden Film 'Shoah', an dessen Fertigstellung er über zwölf Jahre arbeitete, worüber er intensiv und ausführlich berichtet. In Israel sind außerdem seine Filme über die Zahal, die israelische Armee, bekannt und ein Film über Israel selbst: seine Bedeutung, seine spirituelle und historische Herkunft. Denn diese ist auch Europa; die Shoah aber, die Ermordung von Millionen Juden, ist eine der Herkunftslinien, die zur Existenz des Judenstaates führte. Sie ist auch der basso continuo von

Leben, Selbstverständnis und Arbeiten Lanzmanns.
Claude Lanzmann, geboren 1925, scheint eine Begabung für Freundschaften, für Beziehungen zu haben; er war befreundet mit Sartre, und mit Simone de Beauvoir verband ihn eine jahrelange intensive Beziehung, aus der Freundschaft wurde. Außerdem berichtet er von der Liebe zu Angelika Schrobsdorff ' ein Rapport, der ein wenig abrupt endet: Man erfährt nichts vom Ende dieser Beziehung. Wie überhaupt der Autor einen Faden aufnimmt, um ihn dann fallen zulassen ' oder aber mehrere Kapitel später wieder aufzunehmen, wie etwa den Selbstmord seiner Schwester 'im Alter von sechsunddreißig Jahren am 18. November 1966' (S. 101).

Lanzmann erzählt vom Aufstieg der Großeltern aus den Schtetln Osteuropas, von der Studentenbewegung, die in Paris ihren Ausgang nahm, von seinem verzweifelten Kampf gegen die Todesstrafe in Frankreich, von seinen zahlreichen Reisen, seinen Liebschaften, etwa der grotesk-tragischen Beziehung zu einer Koreanerin, die über einen hastigen Kuß nie hinauskam.

Alles in seinem Bericht zählt nicht auf eine bloße Konservierung, sondern auf eine unmittelbare Anschauung, auf eine Vergegenwärtigung seines Lebens, und es leuchtet ein, dass solche Vergegenwärtigung und chronologisches Erzählen einander ausschließen: Wir leben in mehreren Zeitaltern unseres Lebens gleichzeitig, das Gedächtnis weiß nichts von 'Folgerichtigkeit'. Im Klappentext heißt es, Lanzmann sei von Neugierde auf das Leben bestimmt ' was zutreffen mag; doch ebenso ist dieses Leben von Grauen und Angst geschüttelt.

Dies ist Thema bereits des ersten Kapitels: Da ist von der Guillotine die Rede und von der Angst, die schon der Zwölfjährige vor ihr hat. Auslöser war ein Film über einen unschuldig zu Tode Verurteilten gewesen; das Hausmädchen hatte den Jungen heimlich in den Kinosaal gebracht. 'Man guillotinierte damals, wie während der Revolution, in der Öffentlichkeit. Monatelang wachte ich gegen Mitternacht auf, von entsetzlichen Schreckbildern verfolgt, mein Vater mußte aufstehen, in mein Zimmer kommen ', mich beruhigen' (S. 15f.). Claude träumte immer wieder, wie er 'der Länge nach' zerschnitten oder wie er geköpft wird: 'Man zersägte mich in Scheiben, flach wie Bretter, von einer Schulter zur anderen, dabei wurde auch der Schädel bis oben hin zerteilt. Die Alpträume waren so heftig, daß ich als Jugendlicher und sogar noch als Erwachsener jedes Mal, wenn ich in einem Geschichtswerk, einem Buch, einer Zeitschrift eine Guillotine abgebildet sah, vor lauter Angst, die Bilder in mir wieder zum Leben zu erwecken, abergläubisch die Augen abwenden oder schließen mußte.' In ebendieser Zeit ' um 1938 ' wurde Frankreich von der Verhaftung und dem Geständnis eines deutschen Mörders in Atem gehalten. Er wurde in Versailles hingerichtet. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung. Danach wurde das Schafott jeweils im Innenhof eines Gefängnisses errichtet, bis 'die Todesstrafe auf Betreiben von François Mitterand und Robert Badinter abgeschafft' wurde.

Es folgt eine merkwürdige Assoziation des Autors: 'Ich habe keinen Hals. In nächtlichen Momenten der Koenästhesie, in denen ich mir das Allerschlimmste ausmale, habe ich mich oft gefragt, wo genau das Fallbeil bei mir auftreffen müßte, um mir den Kopf regelrecht abzutrennen' (S. 17). Lanzmann meint, er sei halslos aufgrund der 'aggressiven Verteidigungshaltung', die er in seinen Alpträumen eingenommen habe, bis er den 'muskulösen Nacken eines Kampfstieres' bekommen habe, 'so undurchdringlich, daß die Schneide abprallen und an ihren Ausgangspunkt zurückschnellen mußte'. (Im fünften Kapitel verweist er jedoch auf das Erbe seines gleichfalls halslosen Großvaters Yankel, S. 113).

Diese 'halslose' Angst durchlitt er immer wieder ' vor allem während des Algerienkrieges, in dem es zu Hinrichtungen kam. Lanzmann durchlitt mit den inhaftierten Freiheitskämpfern die letzten Stunden, dann Sekunden ihres Lebens, glaubte die Filzpantoffeln der Aufseher in den Todesgängen zu hören, dann das brutale Aus-dem-Schlaf-Gerissen-Werden der Gefangenen. Lanzmann imaginiert das grausige Ende der Gefangenen in allen Details. Er berichtet auch, dass ein Protest der Gefangenen ' 'sie sprachen den französischen Gerichten das Recht ab, über algerische Unabhängigkeitskämpfer Urteile zu fällen' ' nur dazu führte, dass sie um so schneller hingerichtet wurden.
Simone de Beauvoir und Lanzmann versuchten zu intervenieren ' ohne Erfolg. Der Autor denkt darüber nach, ob es die Situation geändert hätte, wenn François Mauriac de Gaulle geweckt hätte. Doch es 'war zu spät, absolut zu spät'.

Es folgt eine Erörterung der deutschen Mordmaschinerie unter Hitler, der den Befehl gegeben hatte, die Verschwörer des 20. Juli 1944 hinzurichten. Dann schweift Lanzmann in die Geschichte der Hinrichtungsmethoden ab: '[S]o viele letzte Blicke werden mich nie in Ruhe lassen' (S. 23). Er berichtet von China und von den Japanern, die in der Kunst des Enthauptens durch das Schwert Meister geworden sind. Das Entsetzen erreicht für den Autor einen Höhepunkt in Canberra in Australien, wo er ein Kriegsmuseum besucht. Dort sieht er eine Fotografie, die einen Scharfrichter und sein Opfer kurz vor der Enthauptung zeigt: Der Australier trägt eine Augenbinde, sein 'Gesicht ist starr von ekstatischem Schmerz wie die Gesichter El Grecos im Begräbnis des Grafen Orgaz. Über ihm, am oberen Bildrand, in der gelben Uniform ', sieht man den Schlächter mit einem von höchster Anspannung verzerrtem Grinsen im Gesicht, die Arme zum Himmel gestreckt mit vom Umklammern des Schwertgriffs weiß gewordenen Fingern, und dann endlich das Schwert: der Höhepunkt dieser ungeheuerlichen Trinität. Wenn sie ihren Hieb auch senkrecht beginnt, die Klinge wird ihn doch waagerecht beenden, nachdem sie mit vollkommener Sicherheit einen Bogen im Raum beschrieben hat.'

Lanzmann läßt sich von seiner Assoziation leiten. Da er El Greco erwähnt hatte, folgt auch 'der Goya der Erschießung der Aufständischen am 3. Mai': Das Bild im Prado bedeutet für ihn ein 'höchstes und unaussprechliches Wissen ', das sich zur Gänze offenbart und zur Gänze verbirgt' (S. 27f.). Offenbaren und verbergen ' so könnte man auch die Art dieses Berichts bezeichnen; als zeichne diese Bewegung auch den eigenen Weg des Autors nach.
Die Menschheitsgeschichte als Geschichte des Unrechts, der Schlächterei: Dieser Tatsache geht das erste Kapitel nach. Dieses handelt von der Teilnahme des Verfassers in der kommunistischen Jugendbewegung und seinem Schulbesuch; nur kurz wird die Tatsache der Trennung der Eltern thematisiert. Erwähnenswert ist, dass 1943 im Vorbereitungskurs für die École normale supérieure auch drei Juden waren ' ohne den 'obligaten und diffamierenden Vermerk JUDE (in vier roten Buchstaben) im Personalausweis. Insofern lebten wir ganz in der Illegalität' (S. 38f.). Doch seit dem Sommer 1941 waren Juden auch in Frankreich gezwungen, sich amtlich registrieren zu lassen.

Bereits um 1938, als Lanzmann in Paris zur Schule ging, hatte er Gelegenheit, Antisemitismus übelster Art zu erleben, der ihn nachhaltig ängstigte und erschütterte. Im Oktober 1939 floh die Familie nach Brioude, wo der Vater als Fahrer eines Kohlenlastwagens arbeiten musste. Claude sollte, statt weiterhin zur Schule zu gehen, Postbeamter werden, wogegen er sich vehement wehrt ' mit Erfolg.

Die Niederlage Frankreichs und die Teilung in eine besetzte und unbesetzte Zone führten eine Anzahl weiterer jüdischer Flüchtlinge nach Brioude. Eines dieser Flüchtlingskinder besuchte dieselbe Schule wie Lanzmann und wurde wegen seiner Überlegenheit gegenüber den einheimischen Bauern und Kaufmannskindern von diesen gequält. Es ging nicht um Antisemitismus ' 'Freiman mußte bezahlen, weil er ein so hervorragender Schüler war' (S. 42). Lanzmann eilte herbei und befreite Freiman, ohne dass man ihn daran hinderte.

Eines Tages war Freiman fort, mit ihm seine und zahlreiche andere Familien. Lanzmann spricht von einem 'beispiellosen Schock', der das ganze Dorf erfasste. Vater und Sohn wurden ' ohne dass es der eine vom anderen wusste - Mitglieder in der Résistance, fälschten Ausweise, schmuggelten Waffen. Der Autor beschreibt ihre wagemutigen, bisweilen tollkühnen Aktionen. Rückblickend kritisiert Lanzmann seine 'Ahnungslosigkeit', die keine Form des Mutes ist. Denn 'die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben durchzieht' (S. 47).

Das Erzählen selbst scheint bisweilen wie ohne roten Faden ' da ist noch im selben Kapitel vom Ehrenkodex die Rede, den die deutschen Offiziere haben, und dann vom Film 'Stalingrad' von Jean-Jacques Annaud, wo einem sowjetischen Generalstaboffizier das Kommando entzogen wird, weil seine Truppen ohne ausdrücklichen Befehl im Feuerhagel zurückgewichen waren. Es folgt ein Bericht über einige Helden des Films 'Shoah', z. B. Filip Müller, drei Jahre Mitglied des 'Sonderkommandos' von Auschwitz. Lanzmann ehrt diese Männer eingehend in seinen Erinnerungen, indem er nochmals ihre Namen nennt. Er nennt auch die beiden Männer, die heimlich Tagebuch führten, welches 1945 und 1962 gefunden wurde und dessen Seiten 'zu drei Vierteln unentzifferbar [sind] und gerade deshalb umso erschütternder'.

Der Schluss des zweiten und der Anfang des dritten Kapitels handelt von einem Kriegsbuch: 'Der letzte Sieg' von Richard Hillary. Thema ist die Luftschlacht von England ' Anlass für Lanzmann, von seinen eigenen Erlebnissen als Pilot und von der Israeli Air Force zu erzählen. Eine beeindruckende Schilderung ist Lanzmanns Flug in einer israelischen 'Phantom', einem der schnellsten Flugzeuge der Welt. Während der Dreharbeiten zu 'Tshal' flog Lanzmann eine F-16. Er vergleicht die Vorzüge und Nachteile der beiden Kampfflugzeuge.

Im vierten Kapitel folgt ein Rückblick auf das Geschehen des Jahres 1940 in Frankreich. Dem Vater war bereits 1938, zur Zeit des Münchner Abkommens, klar gewesen, dass es Krieg geben würde. Der erste schwere Verlust des Kindes war sein geliebter Hund Draggy, denn: 'Wir müssen von jetzt an grau wie diese Mauer sein, unbemerkt bleiben, nicht auffallen. Dein Hund wird in wenigen Monaten auffälliger sein, als es für uns gut ist', erklärte der Vater dem verzweifelt protestierenden Jungen. Ein Jude darf nicht auffallen, nicht einmal durch die Tatsache, dass er einen Hund hat. Der Tierarzt, der den Hund impfen sollte, machte volltrunken 'einen Fehler': Er 'verpaßte ihm eine tödliche Injektion' (S. 83).

Obwohl der Vater nichts von den bevorstehenden Deportationen ahnte, baute er mehrere Verstecke im Garten und drillte seine beiden Söhne ' Claude und seinen jüngeren Bruder Jacques ' mit der Stoppuhr, möglichst schnell und ohne ein einziges Geräusch im Versteck zu verschwinden. Zu diesem Zweck wurden die Kinder auch mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Die Mutter ' zu dieser Zeit vom Vater geschieden ' geriet wegen ihres 'jüdischen Aussehens' in ein Verhör der Gestapo, aus dem sie sich nur durch größte Kaltblütigkeit retten konnte. Auch ihr Liebhaber kam mit dem Schrecken davon: Obwohl er beschnitten war, waren die eigens herbeigeholten Ärzte nicht imstande, dies zu erkennen.

Lanzmann berichtet auch über sein kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter; ihr 'unbezwingliches schreckliches Stottern, ihre riesige Nase, die ich erst mit großer Verspätung als die einer 'Tochter des alten Israel' anzuerkennen bereit war, auch wenn ich sie schon früher als geradezu höchst auffällig jüdisch empfunden hatte, die Wutanfälle, die ihre schönen großen Augen in den Höhlen rollen ließen, die aber allein ihr Stottern bezähmen konnten' (S. 100). Erst später erfahren wir die Ursache dieses Stotterns, das zu manchen peinlichen Erlebnissen (z. B. in einem Schuhgeschäft) führte, für die der Sohn sich schämte: 'Paulette [seine Mutter; d. Verf. In] stotterte, weil man ' wie es später, während der Nazi-'Aktionen', auch in den polnischen Ghettos geschehen sollte, wo man die Neugeborenen rücksichtslos knebelte, um zu verhindern, dass ihre Schreie zur Entdeckung ganzer Familien führten ' mit einem Polster ihre Stimme erstickt hatte, damit sie im Hafen von Odessa ' heimlich auf ein Schiff nach Marseille gebracht werden konnte. Das geschah 1903, sie war drei Monate alt' (S. 115). Nach den Morden von Kischinew floh die Familie Richtung Westen.

In diesem Kapitel erfahren wir auch etwas über die Familie des Autors von der mütterlichen und der väterlichen Seite. Die Eltern des Autors waren noch von einem 'Schadchen', einem Heiratsvermittler, verheiratet worden: eine ungünstige Verbindung, die sich in bisweilen grausigen Gewaltakten Luft machte. Claude musste erleben, wie der Vater die fliehende Mutter an den Haaren packte und sie 'von Stufe zu Stufe bis zu unserem Stockwerk schleppt, wobei es keinen Augenblick gibt, den er nicht gegen sie kämpfen muß' (S. 125), wie er sie mit einer Pistole oder einem Messer bedrohte.

Dieser Überblick über die Erzählstruktur anhand der ersten vier Kapitel Claude Lanzmanns, die eher einem Film mit Rückblenden und Off-Ton gleicht als chronologisch erzählten Erinnerungen, zeigt uns, dass die Stärke dieses Erzählens zugleich seine Schwäche beinhaltet (und umgekehrt): den Mangel an Stringenz, eine gewisse Beliebigkeit (was in einem Kapitel steht, könnte ebenso in einem anderen Kapitel gesagt werden) und fehlende Übersichtlichkeit. Die Art seines Erzählens fesselt, doch fehlt ihm bisweilen die Folgerichtigkeit.