"Es ist schwer, so ins Dunkle zu reden"
Briefe an Isak Grünberg 1930-1937

Für seine Existenz steht das Bild des Autors, der jahrzehntelang in einem Genfer Kellerzimmer hauste, ein verschrobenes und verkanntes Genie (vielleicht auch nur ein Spinner?), allein mit ein paar Katzen und einem Rotkehlchen und einigen dreißig Metern durch den Raum gespannte Wäscheleine, an der zu Tausenden die Zettel mit jenen 'Notizen' hingen, die kein Mensch las ' keineswegs eine Idylle à la Spitzweg! Mit seltener Konsequenz ist dieser Außenseiter der Schweizer Literaturgeschichte dem nachgekommen, was er als seine Berufung begriff: dem Schreiben. Ihm ist Kritik stets auch Selbstkritik. Die Unbedingtheit, gerade sich selbst gegenüber, verleiht seinen Argumenten, aber auch seinen Entschlüssen im 'bürgerlichen Leben' Würde, erhebt die bisweilen bitteren Glossen und boshaften Invektiven, mit denen er die Tausende von Seiten seines über Jahrzehnte geführten work in progress spickt, immer wieder in den Rang großer Literatur- und Zeitkritik. Er, Sohn eines Pfarrers, von der Schule geflogen wegen eines angeblichen 'schlechten Einflusses' auf seine Mitschüler, hat sich nicht dazu hergeben können, einen 'Brotberuf' auszuüben, um sich 'die literarische Existenz zu finanzieren': Die Berufung war ihm Beruf. Bisweilen drohte die Höhe des Preises, den er für geistige Freiheit zu entrichten hatte, seine Kräfte zu übersteigen: 'Es gehört eine ungemeine Kraft dazu, in der Geldbedrängnis (Ausgeliefert durch Not) die seelische Würde aufrecht zu erhalten; der Künstler kann das, der allgemeine Mensch kann es nicht; also muß der allgemeine Mensch die Welt ändern. Denn die seelische Würde ist alles, oder doch, worauf es zuerst ankommt.' (Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung, Erstpublikation 1944) Zugleich hat er sich geweigert, angesichts der Höhe und Schwierigkeit seiner Aufgabe zu kapitulieren. Den Bedingungen und Zwängen jahrzehntelanger Mittellosigkeit ausgesetzt, schrieb er sich aus Öde und Isolation heraus: Indem er Unmittelbarkeit herstellte und der Sache diente, blieb er zugleich sich selbst treu - eine Haltung, die vielen heute verschroben und anachronistisch anmutet. Doch sie ist es nicht, wenn ein Schriftsteller ein wirklicher Schriftsteller sein will; die Alternativen wären Dilettantismus, Bombenlegen oder Selbstmord. Am Beispiel Ludwig Hohls ist zu sehen, wie jemand das Schriftsteller-Sein ' gegen widrigste Umstände ' behauptet hat. Der Autor hat dies selbst in Worte gefasst: 'Die wahren Schriften: sie geben dem Leben nicht recht; aber das Leben wird ihnen recht geben.' Oder: 'Die Technik des Siegens besteht darin, keine Technik des Sieges zu haben, sondern ein Sache, und die Technik des ergebensten Dienstes an dieser Sache.' (ebd.) Siegen im Geiste: Der Preis dafür ist Scheitern im bürgerlichen Lebens- und Berufszusammenhang.
Was ist aber auch von diesen bürgerlichen 'Zusammenhängen' zu halten? Hohls Arbeiten steht in diametralem Gegensatz zu jenem mechanischen und mechanistischen Ausführen, Wiederholen, Sich-Einpassen, Funktionieren, in denen es die Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zur Perfektion gebracht hat. 'Man darf nicht enden, darauf aufmerksam zu machen, daß die meisten Menschen sich vor dem Arbeiten flüchten nicht in die Faulheit ' nicht in die apparente Faulheit ', sondern in eine total tote Beschäftigung; nicht in die Bewegungslosigkeit '. Die wahre heutige Faulheit besteht in einer toten Bewegung.' Und: 'Dies habe ich gesehen: Die Leute strengen sich nicht an; vielmehr: sie strengen sich zu sehr an, sich nicht anzustrengen; sie ermüden sich irgendwie' (ebd.). Wahrscheinlich, weil sie sich ihre Müdigkeit erst glauben 'verdienen' zu müssen ' durch sinnentstellende Tätigkeit, 'Beschäftigung' genannt. Die bürgerliche Existenz, so Hohl höhnisch, hat ja gern 'festen Boden unter den Füßen', und glaubt, dies mit 'Geld Verdienen' tatsächlich erreichen zu können. Hohl hat diese Art von Selbstbetrug durch das Verdienen einer materiellen Existenz früh durchschaut.

Er lebte viele Jahre von dem wenigen Geld, das er durch Abdruck kleiner Texte in Zeitungen bekam, und von den Zuwendungen von Freunden. Geschätzt wurde er von den Bekannten seiner Zeit: Peter Bichsel, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Elias Canetti (der ihn 1980 in seinen Aufzeichnungen 'Das Geheimherz der Uhr' ehrte mit der Beschreibung seiner Begegnung mit Hohl in 'Huldigung, nicht zu spät'). Doch lange Zeit war er unbekannt, ignoriert von lesender Öffentlichkeit und Kritik, so dass er mehrere seiner Werke im Selbstverlag herausbringen musste. Erst wenige Jahre vor seinem Tod konnte er dann doch noch Erfolg und Anerkennung genießen. 1978 erhielt er den Robert-Walser-Preis, im selben Jahr den Preis der Carl-Seelig-Stiftung, der nur dieses eine Mal verliehen wurde, und in seinem Todesjahr 1980 den Petrarca-Preis, wobei Peter Handke eine Laudatio hielt.
Eine erste publizistische und damit lebensgeschichtliche Zäsur bedeutete Anfang der 1970er Jahre der Besuch des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld, der durch einen Hinweis Adolf Muschgs auf ihn aufmerksam wurde und mit Hohl eine (Neu-)Ausgabe seiner Werke aushandelte, so dass die Chance einer größeren Leserschaft entstand. Dennoch sind heute viele seiner Bücher nur noch antiquarisch erhältlich.

Aus seinen Anfängen weiß man wenig. Die Pariser Aufzeichnungen aus dem Jahre 1926, die erstmals 2004 veröffentlicht wurden, zeigen Hohl im Kreis einer kleinen Schweizer Kolonie in Paris, die ein Bohème-Leben in Cafés und Bars führt. Über prägende literarische Einflüsse findet sich in diesen Briefen nichts. Als Hohl 1930 Paris verlässt, um sich erst in Österreich, dann in Den Haag seinem Hauptwerk, den 'Notizen', zu widmen, reißen die Informationen über ihn ab.

Licht in diese Zeit bringt ein Konvolut Briefe, das in Edinburgh in einem sprichwörtlichen Emigrantenkoffer gefunden wurde: Gerichtet sind sie an den Mentor Hohls, Isak Grünberg (1897-1953), der sieben Jahre älter war als Hohl und sich in der literarischen Welt bereits etabliert hatte. Von Paris aus unterhielt er Kontakte zu deutschsprachigen Zeitungen und übersetzte Céline. Zu seinen Freunden gehörte der jiddisch schreibende Autor Oser Warszawski (geb. 1898 in Sochaczew, gest. 1944 in Auschwitz), der mit ersten Romanen hervorgetreten war und für Hohl gleichfalls wichtig wurde. Die Briefe an Grünberg, dessen Antworten gleichfalls veröffentlicht werden, zeigen Ludwig Hohl in einer prägenden Beziehung, während er in Den Haag seine eigene Sprache zu finden begann.
Bereits im ersten Brief Hohls an Grünberg (am 1. Mai 1930) ist von Gewalterfahrung die Rede: Guy-Félix Fontenaille (1892-1985), ein Schriftsteller und ebenfalls zum Bekanntenkreis des Autors gehörig, habe ihn 'mit List' in ein Irrenhaus verfrachtet, wo er in 'die Hände der Gewalt' geriet, 'gestochen hinten u. vorn, aller Dinge bis aufs Taschentuch beraubt, in einer kahlen Zelle hinter Gitter u. Panzertüren eingesperrt, wie ein Irrsinniger behandelt, trotzdem jedermann wußte, daß ich eine Riesendosis Veronal gefressen hatte.' Das im 'Irrenhaus' Erlebte verarbeitet Hohl später in seinem Text 'Zehn Tage', der auch im vorliegenden Buch abgedruckt ist.

Der Plan, nach Wien abzureisen, wird bereits im ersten Brief Hohls erwähnt; sein nächster Brief an Grünberg kommt von dort.

Grünberg wird über Publikationen Hohls informiert, z.B. in der 'Neuen Schweizer Rundschau'. Er begreift die Kompromisslosigkeit Hohls: 'Trotz der Schwere Ihres Lebens beneide ich Sie um die Folgerichtigkeit, die ich darin sehe. Und ich schäme mich der Schwäche, die mich an der Futterkrippe gebunden hält [Grünberg war Sekretär für das Pariser Auslandsbüro des 'Berliner Tageblatts'; d. Verf. in]; der Widerstandslosigkeit, die mich die Umstände hinnehmen läßt, wie sie ohne mein Zutun sich gestalten. Aber ich habe nicht die Kraft des Vertrauens, die ich an Ihnen bewundere, wie die 'Lilie im Felde' ohne Sorge um den kommenden Tag dem Gesetz meines Lebens nachzuleben' (Brief vom 16. 1. 1931). Hier zeigt sich der Mut Hohls ' den der bürgerliche Kleingeist gern als 'Faulheit' deklariert. Sorgen freilich hat er genug: Sein Arbeiten kann lange Zeit nur möglich werden durch finanzielle Zuwendung von Verwandten ' was ohne 'langes Kämpfen' (Brief Hohls vom 6. 11. 1932) nicht abgeht. Hier ist eine Thematik angesprochen, die lange Zeit hindurch Hohls verhasste Begleiterin sein wird ' die Armut und die Unterstützungsbedürftigkeit. So heißt es einmal: 'Meine Kindheit im ganzen war so scheußlich daß ich von ihr lieber nicht zu reden beginnen will' (Alexander J. Seiler: Das Kleinste und das Größte: 49. In: Johannes Beringer (Hg.): Ludwig Hohl. Frankfurt a. M. 1981). Von einem solchen Elternhaus ist nicht viel Hilfe zu erwarten. Rund ein Jahrzehnt seines Lebens, 'von Zwanzig bis gegen Dreißig', sah Hohl sich 'von einem heftigen dunklen Ringen erfüllt'. Gemeint ist das Ringen um eine endgültige Werkidee. Was das bedeutet, wie das aussieht, können wir in der Briefsammlung Hohl ' Grünberg ' Warszawski verfolgen. 1939 wird Ludwig Hohls erstes Prosabuch 'Nuancen und Details' in Zürich erscheinen.