Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944

Weil wir im Grenzgebiet leben, haben wir als erste die deutsche Invasion und Besetzung erfahren. Die Deutschen haben die Sowjetunion überfallen, und schon in den ersten Wochen war Litauen besetzt. ' Der Sturm, der über das Land hinweggegangen ist, hat schreckliche Formen angenommen.' (1196)

Die deutsche Besetzung Litauens, die die oben zitierten jüdischen Widerstandskämpfer aus Kaunas, Dimitrij Gelpernas und Meir Yelin, in ihren Erinnerungen als einen 'Sturm' charakterisieren, endete mit der fast vollständigen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung des Landes. Der Historiker Christoph Dieckmann hat nun eine zweibändige Monografie über die deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941 bis 1944 vorgelegt. Mit einem multiperspektivischen Ansatz setzt er bisher isoliert betrachtete Forschungsfelder der deutschen, litauischen und israelischen Forschung in Beziehung und hat entsprechend Quellen unterschiedlichster Provenienz für seine Untersuchung herangezogen: von zeithistorischen Dokumenten bis zur Auswertung von Gerichtsakten der Nachkriegszeit. Er stellt gezielte Fragen an die jeweiligen Zeitphasen der Besatzung, greift resümierend auf die internationale Forschung zurück und diskutiert diese vor dem Hintergrund der untersuchten Fragestellungen. Das Ergebnis ist eine ist eine 1600 Seiten starke Studie, die den geplanten, dabei dynamischen, den zweckrational organisierten und zugleich von Willkür vorangetriebenen Prozess offenlegt.

Dieckmann analysiert im ersten Band zunächst chronologisch und systematisch die politischen Voraussetzungen der Vernichtungspolitik bis zum August 1941 und dann die Anfänge der deutschen Besatzung, die er wiederum in die Phase der Entscheidungsprozesse zum Vernichtungskrieg, die litauische Kooperation mit den deutschen Machtinstanzen sowie die deutsche Wirtschafts- und Kolonisierungspolitik unterteilt. Er untersucht die ' nie in ihrer Zielsetzung, doch im Detail häufig strittigen ' politischen und wirtschaftlichen Interessen der einzelnen deutschen Dienststellen wie auch der litauischen Gruppierungen und deren dynamische Verflechtungen und Machthierarchien. Die ersten Pogrome in den Städten und Dörfern und die erste Mordwelle in der Provinz verdeutlichen das Zusammenspiel von Wehrmacht, Sicherheitspolizei und litauischen Nationalisten. Dieckmann zeigt vergleichend auf, dass die Unterschiede der Verfolgung in den einzelnen Regionen nicht sehr groß waren.

Ein seltenes Dokument aus dieser Zeit, denn nur sehr wenige der Verfolgten schrieben in der Unüberschaubarkeit des Geschehens, ist der Brief von Khone Boyarski. Der 53-jährige Mann war in den ersten Wochen der deutschen Besatzung nach verschiedenen Fluchtstationen in sein Dorf Butrimonys zwischen Alytos und Vilnius zurückgekehrt: '' Und wirklich vertrieben die 'Partisanen' [litauische antisowjetische Nationalisten, GS]  jeden aus den großen Häusern am Marktplatz und steckten sie in Nebengassen. ' Zur selben Zeit kam eine Gruppe Deutscher und begann, ihre Macht zu zeigen.' (362)

Im Zentrum des zweiten Bands stehen Entrechtung, Raub und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung; er beginnt mit der zweiten Phase des systematischen Massenmords. Dieckmann bezeichnet die Schnittmenge zwischen dem vor allem nationalistisch ausgerichteten litauischen Antisemitismus und dem rassistischen deutschen Antisemitismus als groß genug, um gemeinsam zu handeln. Zudem konnotierten und stereotypisierten sowohl NS-Täter als auch litauische Nationalisten Juden mit Bolschewismus und dem sowjetischen System. Diese ideologischen Motive der Vernichtungspolitik verknüpft der Autor mit kriegspragmatischen Aspekten: 'In dieser Studie wird hingegen stärker betont, dass es um den Versuch nationalsozialistischer Weltanschauungstäter und ihrer Helfer ging, unter allen Umständen die Kriegsführung zu erleichtern und den Krieg zu gewinnen.' (927)

Es folgt ein Überblick über das Leben in den drei großen Ghettos in Kaunas, dem heutigen Vilnius und ¦iauliai sowie den von Ende 1941 bis zum Herbst 1943 noch existierenden Provinzghettos. Zeitzeugendokumente ' Aufzeichnungen aus den Ghettos, Mitteilungen der Judenräte und spätere Aussagen von ehemaligen Ghettogefangenen vor Gericht ' veranschaulichen den harten Überlebenskampf, den überall gleichen Kampf um Lebensmittel, die überall ähnlichen Fragen nach dem Überleben, die Fragen kleiner Gruppen nach Widerstand und dessen Organisierung. Dieckmann liefert mit seiner Untersuchung der Ghettos eine wichtige Vorlage für die vergleichende Ghettoforschung.
In der letzten Phase der Besatzung (Herbst 1943 bis Juli 1944) vernichteten die deutschen Besatzer die Ghettos und Zwangsarbeitslager, organisierten die größeren Ghettos in Konzentrationslager um und führten Deportationen nach Estland und in die Vernichtungslager durch. Der zweite Band endet mit vergleichenden Studien zu weiteren Opfergruppen ' Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen, Roma und psychisch Kranken ' und schließt mit einem Kapitel zum Widerstand in den Wäldern, der deutschen Partisanenbekämpfung und einer Darstellung der unterschiedlichen Partisanengruppen.

Dieckmann gibt einen detaillierten Gesamtüberblick über die deutsche Besatzung, den Krieg und die Shoah in Litauen. Vor allem über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in der Provinz war hierzulande bisher wenig bekannt. Die angeführten Dokumente und Überlieferungen belegen überzeugend die Kollaboration zwischen deutschen und litauischen Stellen und widersprechen Geschichtsverzerrungen, die nationale Geschichtsschreibungen prägten oder noch prägen. Die Untersuchung besticht durch ihre klare Struktur, die es ermöglicht, deutsche und litauische Täter wie auch die Bedingungen der jüdischen Opfer und Akteure in den verschiedenen Phasen der Besatzung in den Regionen vergleichend zu analysieren.