Handbuch Anthropologie
Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik

Von der Anthropologie im Singular zu sprechen, könnte die Vermutung nahe legen, bei ihr handele es sich um eine eigene wissenschaftliche Disziplin mit einem mehr oder weniger klar definierten Set an Methoden und Theorien, einem Kanon theoriegeschichtlich bedeutender Autoren sowie entsprechenden Lehr- und Forschungsinstitutionen. Doch die Feststellung, dass in nahezu allen Einzelwissenschaften vom Menschen in jeweils unterschiedlichen, teilweise einander widersprechenden Bedeutungen die Rede ist, macht den Begriff 'Anthropologie' zu einem komplexen wissenschaftstheoretischen Problem, von dem mit Plessner angenommen werden kann, dass es zwar immer wieder reformuliert, aber nicht gelöst werden wird. Die verschiedenen Bestimmungen des Humanen sind zu heterogen, als dass sie in einer integrativen Theorieperspektive gebündelt und auf einen kleinen aber gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten ' davon zeugt auch der Untertitel dieses rund 450 Seiten starken, 2010 bei Metzler erschienenen Handbuches: 'Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik'. Schon der Vergleich einiger Namen der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Anthropologien führt die Hürden einer verbindlichen Bestimmung des Menschen bildhaft vor Augen und macht die integrative Perspektive höchstens in Form einer systematischen Typologie verschiedener Menschenbilder denkbar. Da stehen behavioristische, soziobiologische und neurowissenschaftliche neben kulturphilosophischen, theologischen oder philosophischen Denkansätzen, die jeweils für sich einen Allgemeingültigkeitsanspruch vertreten und die jeweils anderen Positionen zu umfasssen behaupten. Vor diesem Hintergrund ist die Herausgabe eines Handbuches für Anthropologie eine konzeptionell anspruchsvolle Aufgabe, deren erste Hürde die Autoren meistern, indem sie sich in einer geschmeidig lesbaren Einleitung dezidiert von dem ohnehin kaum realisierbaren Vollständigkeitsanspruch verabschieden und die Pluralität der aktuellen Debatte um das spezifisch Menschliche selbstbewusst in den Vordergrund stellen. Gleichwohl ist in dem Vorwort von einer integrativen Perspektive die Rede, die allerdings nicht auf eine bestimmte Blickrichtung festgelegt ist, sondern in einer Reihe wechselnder Fragestellungen unterschiedliche Standpunkte einnimmt und damit die im Hauptteil erfolgenden Positionswechsel an einem Horizont sinnverwandter Überlegungen orientiert. So überlegen die in der Philosophie beheimateten Herausgeber systematisch, ob das Fragen nach dem Menschen ein empirisches oder ein apriorisches Unterfangen sei, in welchem Verhältnis die Anthropologie zu den Einzelwissenschaften stehe, ob sie geisteswissensschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Zuschnitts sei, normativ oder deskriptiv verfahre und letztlich, ob anthropologisches Fragen auf Universalien ziele oder notwendigerweise im Partikularen verbleiben müsse. Diese grundsätzlichen Überlegungen spannen einen weiten Rahmen auf, der einen empirisch-naturwissenschaftlichen Ansatz unter den rund 80 Einzelbeiträgen genauso zu umschließen vermag, wie beispielsweise die kulturrelativ und konstruktivistisch argumentierende literarische Anthropologie, die nicht mehr den Menschen selbst, sondern Menschenbilder im Medium literarischen Sprechens zum Gegenstand hat.
Die Aufteilung des Handbuches folgt einem effektiven Schema, das der Geschichtlichkeit der Anthropologie ebenso gerecht wird, wie dem gegenwärtigen Bedürfnis theoretischer Operationalisierbarkeit. Zu den im ersten Kapitel des Hauptteiles versammelten Klassikern von Kant bis Foucault zählen nicht nur Plessner, Gehlen, Scheler und Cassirer, sondern auch Denker wie Heidegger, Darwin, Norbert Elias, Marx, Marcel Mauss oder Freud, deren Werke zwar unbestritten zahlreiche anthropologische Implikationen enthalten, aber nicht wie die erstgenannten Autoren gleichsam eine anthropologische Konzeption personifizieren. Durch diese eigenwillige Auswahl gelingt es den Herausgebern, bereits Entwicklungslinien anzudeuten, die in das Herzstück des Handbuches führen, in dem 23 mehr oder minder bekannte Ansätze zur Explikation des Humanums auf je 5-10 Seiten vorgestellt und systematisch, historisch oder durch eine kurze Einführung in die Konzepte ihrer repräsentativen Theoretiker vorgestellt werden. Neben Denkansätzen, die in einem derartigen Nachschlagewerk nicht fehlen dürfen (Entwicklungspsychologie, Philosophische Anthropologie, Evolutionsbiologie), finden sich auch solche, deren theoretische Nachhaltigkeit und anthropologische Relevanz noch Gegenstand laufender Aushandlungsprozesse ist (Enhancement, Hirnforschung, Verhaltensgenetik). Die an sich löbliche Absicht, den aktuellen, an den Naturwissenschaften ausgerichteten Tendenzen der gegenwärtigen Forschung zu folgen, verleiht diesem Teil des sonst rund konzipierten Handbuches leider eine leichte naturalistische Schräglage. Gegen diesen Einwand könnte allerdings geltend gemacht werden, dass die manchmal zu Verabsolutierungen neigenden Naturalismen nicht nur durch ihre textuelle Nachbarschaft zu kulturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Beiträgen kritisch gebrochen werden, sondern oft von selbst die Grenzen ihrer theoretischen Reichweite markieren.

Im dritten Teil des Handbuches werden anthropologisch zentrale Begriffe erläutert, zu denen die Herausgeber auch abseitige Termini wie Mode, Rausch, Schrift oder Speziezismus zählen. Zusammen mit dem ausführlichen Personenregister und dem im Verhältnis zum Umfang des Kompendiums etwas schmalen Stichwortverzeichnis bietet dieser letzte und seitenstärkste Teil dem Suchenden die Möglichkeit eines gezielten, thematisch motivierten Zugriffes. Wer Hinweise beispielsweise zur anthropologischen Relevanz der Aggression, des Geschlechts oder der Zeit sucht, wird sie hier finden und beim Lesen durch die vielen eng getakteten Verweise sofort auf neue Lektürepfade gelockt. Wer der Lockung folgt, anstatt sich mit einer kompakten Auskunft zufrieden zu geben, kann Stunden mit diesem Handbuch verbringen und wird währenddessen erleben, wie das Bedürfnis, sich auf einem zunehmend komplexer werdenden Feld zu orientieren, dem angenehmen Gefühl einer gepflegten theoretischen Dezentrierung weicht. Dabei sorgt der mehr der Darstellung eines Diskurses als der Parteinahme, mehr der Kennzeichnung forschungsspezifischer Basisannahmen als der Transzendierung des eigenen Standpunktes bemühte Duktus in den Beiträgen für deren Anschluss- und Diskurstauglichkeit. Die Mehrdeutigkeit und mitunter Widersprüchlichkeit des spezifisch Menschlichen, das keine einheitliche semantische Mitte bilden will, ist möglichwerweise die einzige Konstante dieses anhaltenden anthropologischen Diskurses, als dessen eindrucksvolle Momentaufnahme sich dieses Handbuch versteht. Im Sinne dieser paradoxen These ist jedem zukünftigen anthropologischen Explikationsvorhaben zu wünschen, was die Herausgeber mit Blick auf ihr Handbuch im Vorwort hoffen: dass es zukünftige Debatten ermögliche und befördere, anstatt sie zu beenden. Bei der imposanten Fülle und Vielfalt und anbetracht der überzeugenden Konzeption dieses Handbuches, wird es diese Funktion sicherlich noch viele Auflagen lang erfüllen. Der Mensch bleibt rätselhaft.