Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989

Was ist Europa? Was ist europäisch? Fragen nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Europäern sind von brennender Aktualität. Auch die Geschichtswissenschaft kommt nicht umhin, sich ihnen zu stellen. Doch nur wenige Historiker sind in der Lage, auf engem Raum und mit solcher Stringenz Antworten zu geben, wie dies Hartmut Kaelble in seinem neuen Buch tut. Das Buch ist der Versuch einer Synthese, die anhand der zwei Leitbegriffe 'Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat' so konsequent wie das bisher wohl noch niemand getan hat, nach den gemeinsamen Entwicklungstendenzen in Europa seit 1945 fragt. Die Europa-Karte auf der Umschlagseite ' mit Flüssen und Relief, aber ohne Staatsgrenzen und Ländernamen ' illustriert diesen Ansatz trefflich.

Würde man nationalstaatszentrierte sozialgeschichtliche Synthesen einzelner europäischer Länder nebeneinanderstellen, so würde man nach der Lektüre hunderter Seiten sicherlich schlüssige Vergleiche ziehen können, doch das Resultat der systematischen und systematisierenden Fragestellungen Kaebles ist verblüffend: trotz der unvermeidbaren Auslassungen und Auswahl enthält es eine Fülle von Details und griffigem Zahlenmaterial und originellen Analysen.

Auf die konzise Einleitung folgt ein Prolog, der die Situation in Europa im Jahr 1945 darstellt: moralische und physische Zerstörung, nacktes Überleben allenthalben. Hier wie in den drei chronologisch separierten Hauptteilen des Buchs (1945-1950; 1950-1973; 1973-1989) ist die Struktur die gleiche: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik bilden die Hauptachsen. Innerhalb dieser Achsen werden alle relevanten Aspekte kurz und bündig ' konzeptuell anspruchsvoll, aber eben nicht mit Jargon überfrachtet ' aufgearbeitet.

Bemerkenswert ist vor allem der Versuch, trotz der so unterschiedlichen politischen Konstellationen, immer wieder auch nach Gemeinsamkeiten zwischen ost- und westeuropäischen Entwicklungen, gewissermaßen durch den Eisernen Vorhang hindurch zu suchen. Obwohl die einzelnen Fakten und Entwicklungen nicht unbedingt neu sind, sind es diese Perspektive und die daraus resultierende Fragestellungen, die im wahrsten Sinne des Wortes als Augenöffner wirken können.

Daneben tritt der Anspruch, auch die globale Rolle Europas in der Welt in den Blick zu nehmen. Das fängt mit der Suche nach den sich immer mehr nivellierenden Unterschieden zwischen (einstigen) Kolonialmächten und Nicht-Kolonialmächten innerhalb Europas an und setzt sich fort mit der Frage nach dem Platz Europas innerhalb einer postkolonisierten Welt, aber auch nach seiner Wahrnehmung durch die ehemaligen Kolonien.

Am Ende stellt sich zwar die Frage, ob die politische Dimension nicht ein wenig zu kurz kommt, indem sie fast schon demonstrativ knapp behandelt wird; aber dies ist wohl der Preis für einen äußerst stringenten und systematisierenden Überblick, mit dem der Leser belohnt wird. Dies liegt auch am reizvollen Reihenformat. Leider wird dabei an manchen Stellen allzu sehr mit direkten Nachweisen gespart. So wünschte man sich gerade bei der Präsentation des Zahlenmaterials präzisere Belege als sie die Auswahlbibliographie (die auf der Homepage des Verlags ausführlich ergänzt wird) liefern kann.

In den letzten Jahren sind zahlreiche theoretische Überlegungen angestellt worden, wie transnationale Geschichte geschrieben werden kann. Für die praktische Umsetzung kommt indes den Arbeiten Hartmut Kaelble im Bereich der europäischen Geschichte Pioniercharakter zu.