VILNE. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust
Eine transnationale Beziehungsgeschichte

'Vu ikh gefin a shpur fun Vilne, nem ikh dos tsu!' (Wo ich eine Spur von Wilna finde, nehme ich diese auf!) Mit diesem Zitat eines ehemaligen Einwohners der Stadt Wilna, jiddisch Vilne, vor der Shoah für die jüdische Bevölkerung das Jerusalem des Nordens und ein Zentrum jüdischer Kulturen, überschreibt Anna Lipphardt ein Unterkapitel des letzten Teils ihrer Arbeit, das mit 'Vilner Stimmen' betitelt ist und in dem Zeitzeugen über ihre Beziehung zur ehemaligen Heimatstadt und ihre Erinnerungspraxis zu Wort kommen. (S. 423)

In der umfangreichen Untersuchung geht Anna Lipphardt, die zur Zeit Juniorprofessorin für Kulturwissenschaften an der Universität Freiburg ist, den Fragen nach, was mit den überlebenden jüdischen Einwohnern der ehemals multiethnischen Stadt Vilne, mit ihrem lokalen Bewusstsein, ihren Ortbindungen und -erinnerungen geschehen ist. Das Hauptaugenmerk der Recherche, die theoretisch in der Erinnerungs-, Kultur-, Heimat- und Migrationsgeschichte fundiert wird, richtet sie auf die jiddische Kultur- und Erinnerungsarbeit. Damit grenzt Anna Lipphardt das Thema ein und begreift die Arbeit auch als ethnografisch-historische Fallstudie der jiddischen Kultur nach dem Holocaust. Die Zeit nach 1945 steht dabei nicht als ein Epilog zum Holocaust, sondern es geht darum, eine Bewegungsgeschichte der Menschen, eine TransLokalgeschichte, nachzuzeichnen und aufzuzeigen, wie die Erinnerung an die Stadt lebendig gehalten wird, neu entsteht und in der ' als prozessualer Akt ' Erinnern, Gedenken und Trauer verwoben sind.
Referenzen der Untersuchung sind die konkreten Bedingungen der jüdischen Bevölkerung, ihre ehemalige Minderheitensituation und kulturellen Differenzen sowie die Erfahrungen von Genozid und Trauma. Diese stellen für die Geschichte einer 'Erinnerung und Kultur in Bewegung' (S. 24) neue Herausforderungen für die Theorie des Gedächtnisses und der Erinnerung dar, in der bisher meist von homogenen Gemeinschaften mit festen Grenzen ausgegangen wurde.

Von den ehemals etwa 60.000 jüdischen Bewohnern der Stadt überlebten etwa 2000 bis 3500. Nach Aufenthalten in verschiedenen Städten und DP-Lagern verteilten sie sich über alle Kontinente. Nur wenige blieben in Vilnius, die Mehrzahl emigrierte nach Israel und in die USA. Schwerpunkt dieser Untersuchung sind die Entwicklungen in New York, Israel und Vilnius. Anna Lipphardt zeichnet Stationen der Nachkriegsgeschichte an den jeweiligen Orten nach und rekonstruiert die Entstehung unterschiedlicher Gruppen, die sich der Erinnerungs- und Gedenkarbeit widmen.
Es folgt die Darstellung verschiedener Erinnerungsorte, die mit der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Widerstandslieds 'Zog nit keynmol, az du geyst dem letstn veg!' (Sag niemals, dass du den letzten Weg gehst!), eingeleitet wird. (S. 293) An diesem Lied, das in Vilne von Hirsh Glik gedichtet und das als Hymne des jüdischen Widerstand, als 'Transnational-Hymne' gilt, wird die Verselbständigung der Erinnerung deutlich, in der der Ursprung des Lieds und die Vilner Ethik der 'Doykeyt', des 'Hierseins', und das Widerständige kaum noch bekannt sind, das Lied jedoch zu einem allgemeinen jüdischen Kulturgut geworden ist. Weitere Erinnerungsorte, die untersucht werden, sind jüdische Friedhöfe ' als Erinnerungs- und Trauerorte, Gedenkveranstaltungen und Bilder der Vilner Stadtgeschichte und -modelle.

Die sehr strukturierte und gut lesbare Arbeit gibt Einblicke in die bisher wenig untersuchte Nachkriegsgeschichte der Vilner, ihre translokalen Erinnerungspraxen und Erinnerungslandschaften nach dem Holocaust. Anna Lipphardt resümiert, die Geschichte der Vilner nach dem Genozid zeige exemplarisch die Schwierigkeiten und Dilemmata, mit denen verfolgte Minderheiten, die sich um kulturelle Kontinuität bemühen, konfrontiert sind. Sie folgt diesem oft schwierigen, doch häufig auch hoffnungsvollen Weg der Emigranten und deren Erinnerungen und setzt mit ihrer Untersuchung beispielhafte Impulse für die Migrations- und Genozidforschung.